Letzte Wege: Aufbruch

Nach dem Tod geschieht noch viel, bevor wir unter die Erde kommen. Eine dreiteilige Reportage über die letzten Wege vor der ewigen Ruhe.

Dass unser Leben mit dem Tod endet, ist relativ gewiss. Nur unser Weg auf dieser Welt, der ist mit dem Tod noch nicht gleich zu ende. Bevor wir beigesetzt werden, verbringen wir noch eine ganze Weile unter den Lebenden und legen noch so manche Strecke zurück. Patientenzimmer, Krankenhausaufzug, Pathologie, Kühlraum, Leichenwagen, Stadtverkehr, Gerichtsmedizin, Bestattungsunternehmen, Transporter zum Friedhof. Welchen Menschen begegnen wir als Tote auf diesen Wegen noch? Welche Hände erweisen uns letzte Dienste? Was bewegt die Menschen, die uns auf unserer letzten Reise begleiten? Und: Wie könnte sie sich anfühlen, die Vorbereitung auf die ewige Ruhe? Um das herauszufinden, mache ich mich auf den Weg ins Krankenhaus. Denn oft beginnt diese letzte Reise dort.

Der Weg in die Pathologie

Der Türöffner surrt. Die Tür löst sich mit einem lauten Klicken aus dem Schloss. Wir treten in einen breiten, halbdunklen Tunnel, ein Stockwerk unter der Erde. Dämmriges gelbes Licht sickert von irgendwoher durch den Gang, unsere Stimmen hallen die Wände entlang und verschwinden um eine Kurve. Der Tunnel führt in die Pathologie des Münchner Klinikums Rechts der Isar, den Arbeitsplatz von Judith Brauneis. Seit 20 Jahren leitet die Präparatorin für Humanmedizin hier den Sezierbereich. Sie zeigt mir ihren Arbeitsplatz und schildert die Abläufe in der Abteilung aus ihrer Sicht als Präparatorin.

Der Versorgungsgang untertunnelt den gesamten Komplex des Klinikums und ist von allen Stationen aus begehbar. Auf diesem Weg werden verstorbene Menschen vom Patientenbegleitservice in die Pathologie gebracht – auf Transportwägen aus Edelstahl mit verschließbarem Deckel, um Anonymität zu wahren. „Wer im Krankenhaus so einen Wagen sieht, der weiß natürlich trotzdem, was das heißt“, sagt die Präparatorin. „Aber Krankenhaus ist nun mal nicht nur leben, sondern auch sterben.“

Ein ganzes Arsenal solcher Wägen steht hier im Durchgang zur Pathologie herum. Als Besucherin im Krankenhaus ist mir noch nie so ein Wagen begegnet. Für Judith Brauneis ist es genau anders herum – sie sieht Patienten nie lebend, trifft sie ausschließlich als Tote auf Metallwägen. Kalt sehen die Wägen aus, und unbequem. Ich stelle mir das vor wie einen Schock, das letzte Mal ein warmes Bett verlassen zu müssen, um dann auf einem Stahlgefährt durch dunkle Gänge geschoben zu werden. Auch, wenn man schon tot ist. Mit ewiger Ruhe hat das jedenfalls wenig zu tun.

Warten, bis es weitergeht

Nach ihrer Fahrt durch den Tunnel werden die Verstorbenen hier in der Pathologie direkt in die Kühlung geschoben. Wir stehen vor riesigen Kühlschränken mit dicken Türen. Drei Tote haben in jeder Kühlung Platz. Sie liegen in Fächern übereinander, ihre Namen sind handschriftlich mit Kreide auf dunklen Tafeln  angeschrieben.

Neunhundert Tote liegen hier im Jahr. Weil die Fluktuation sehr hoch ist, war die Kühlung noch nie überfüllt, erzählt Judith Brauneis. Jeder Tote geht mindestens einmal durch ihre Hände. Sie kontrolliert, ob die Daten auf dem Zehenzettel am Fuß des Patienten und auf dem beigelegten Formblatt übereinstimmen. Sie schreibt den Namen auf die Tafel an der Kühlung und gibt den Toten schließlich zur Abholung durch das Bestattungsinstitut frei – oder eben nicht. Wenn ein Mensch unnatürlich verstorben ist, sei es durch einen Sturz, einen Verkehrsunfall, während einer Operation, durch ärztliche Intervention oder auf jede andere Weise, bei der Dritte beteiligt waren, übernimmt die Staatsanwaltschaft. Dann wird der Tote ein Fall für die Gerichtsmedizin. „Beschlagnahmt“, steht unter einem der Namen. Das ist genau so ein Fall.

Arbeitsplatz im Keller

Seit ihr Kollege hier nicht mehr arbeitet, ist Brauneis. die einzige Präparatorin im Haus. „Am Anfang war das schwer“, sagt sie. „Aber es geht. Ich schaffe es.“ Bei einigen wenigen Arbeiten ist die Präparatorin auf eine helfende Hand angewiesen. Die schweren Metalldeckel auf die Leichenwägen zu heben oder einen 150 Kilo schweren toten Körper von einem Wagen auf den anderen zu hieven ist rein körperlich zu schwer für die eher zierliche Frau mit dem dunklen Bob-Haarschnitt und den lebendigen Augen. „Manchmal muss ich dann eben warten, bis ein Bestatter für eine Abholung kommt. Den bitte ich dann um Hilfe.“ Sonst macht sie die Präparatorenarbeit hier allein.

Die Präparatorin führt mich in den Sektionssaal. Hier finden immer wieder klinische Sektionen statt. Es geht darum, festzustellen, ob Diagnosen korrekt waren, ob die vom Arzt vermutete Todesursache die richtige war, wie sich eine Krankheit entwickelt hat, ob eine Krebstherapie angeschlagen hat oder weshalb ein Patient ganz plötzlich verstorben ist. Es geht um Qualitätssicherung und um Klarheit. Die Angehörigen müssen dem Eingriff immer zustimmen, sonst geht nichts.

Der Sektionssaal ist ein großer, hell erleuchteter Raum. Die Einrichtung besteht hauptsächlich aus zwei großen Sektionstischen. Dicke Edelstahlplatten auf vier Edelstahlfüßen mit einem Edelstahlwaschbecken und einem Wasserschlauch mit Brause. Es riecht nach Formalin. Hierher bringt die Präparatorin ihre Toten für die Sektion. „Zuerst decke ich den Tisch genauso wie eine OP-Schwester“, erklärt sie. Dann legt sie den Patienten auf die Metallplatte und dokumentiert vorab, was ihr auffällt. Ein Pathologe stößt immer dazu, um die Sektion durchzuführen, oft sind auch Medizinstudenten dabei. Bei der Sektion werden alle Organe entnommen, Gewebeproben kommen unters Mikroskop, Protokolle werden verfasst. Die Leiche wird von oben bis unten untersucht, der Pathologe bestimmt die Todesursache.

Einen ganzen Arbeitstag braucht Judith Brauneis für eine Sektion. Rund sechzig Tote liegen im Jahr bei ihr auf dem Tisch – die Hälfte der Toten sind Kinder oder Babys. Hier ist das Interesse besonders groß, die Todesursache zu klären. Judith Brauneis und ihrem Team ist es sehr wichtig, dass alles ethisch korrekt abläuft und die Toten mit Respekt und Würde behandelt werden. „Das sind alles Menschen mit einer Leidensgeschichte und einer trauernden Familie,“ sagt die Präparatorin. Eine respektvolle Behandlung bedeutet auch, die toten Patienten nach der Sektion ordentlich wiederherzurichten. Alle Organe kommen – bis auf entnommene Gewebeproben – zurück in den Körper. Ganze Organe behält das Institut zu Lehrzwecken nur mit der vorherigen Aufklärung und Einstimmung der Angehörigen. „Wir richten jeden Verstorbenen so wieder her, dass er bedenkenlos angeschaut werden kann. Dadurch, dass ich hier auch Abschiede mache, stehe ich dafür gerade, wie der Verstorbene aussieht.“ Die Toten werden zugenäht, gewaschen und später von den Bestattern wieder angekleidet. „Dann“, erklärt die Präparatorin, „sieht man von der Sektion eigentlich gar nichts mehr“.

Niemand spricht gern über den Tod

Den ganzen Tag im Keller, und um einen herum sind alle tot – das stelle ich mir auf Dauer sehr einsam vor. „Am Anfang war es hart allein“, gibt sie zu, „weil mein Kollege zuerst noch da war und wir alles teilen konnten.“ Auch heute fehlt es ihr noch, jemanden zu haben, mit dem sie über den Alltag hier unten sprechen kann. „Ich kann auch sonst mit niemandem drüber reden, denn das will keiner hören“. Judith Brauneis erzählt von überforderten Freunden und davon, dass keiner verstehen kann, was sie hier unten in der Pathologie tut, erlebt und fühlt. „Du bringst den Tod nach Hause“, sagt ihr Mann – auch er will keine Geschichten aus dem Leichenkeller hören. Dennoch hat sie sich inzwischen so daran gewöhnt, hier allein zu arbeiten, dass ihr die Vorstellung schwerfällt, mit jemandem zusammenzuarbeiten. Eigenbrötlerisch sei sie geworden, und komisch sei man sowieso, wenn man in der Branche arbeitet. Nur für die körperlich schweren Arbeiten wäre sie froh um mehr Unterstützung.

Dass wir uns so ungern mit dem Thema Tod beschäftigen, wo er uns doch so sicher ist wie nichts anderes im Leben, finde ich merkwürdig. Aber dass selbst gute Freunde und der Ehepartner mit dem Berufsleben der Präparatorin überfordert sind, überrascht mich. „Die Branche macht einen  merkwürdig für die anderen. Es ist zu hart für die Leute, und keiner setzt sich gern mit dem Tod auseinander.“ Die Präparatorin erinnert sich zurück an ihre Kindheit. Damals war es noch ganz normal, dass verstorbene Urgroßeltern zu Hause aufgebahrt waren, die Nachbarn vorbeikamen und man sich zum Essen versammelte. Damals war es auch normal, zu Hause zu sterben. Heute stirbt man im Krankenhaus. Da wird die Distanz größer, die Toten werden abgeschoben, und die Lebenden wollen sich mit dem Tod nicht mehr auseinandersetzen. Manchmal vergisst Judith Brauneis, dass die Freunde nichts hören wollen von ihrer Arbeit und fängt an zu erzählen. „Da sehe ich dann ganz schnell an den Gesichtern, dass das den Leuten zu viel ist. Und dann höre ich wieder auf.“ Was für Judith Brauneis Alltag ist, ist für alle anderen immer etwas Besonderes. Dabei möchte sie gar nicht auffallen, sondern auch einfach nur normal sein.

Ein letztes Mal Abschied nehmen

Dann zeigt mir Judith Brauneis den Ort, in dem ihr Herzblut steckt: den Abschiedsraum. Hier ist sie kaum noch Präparatorin – hier ist sie vor allem Aufbahrerin, Notfallseelsorgerin, Trauerbegleiterin. Es ist, erklärt sie mir, keine Selbstverständlichkeit, dass eine Pathologie überhaupt eine richtige Aufbahrung anbietet. Hier in der Pathologie des Klinikums hat sich Judith Brauneis selbst dafür eingesetzt, Angehörigen den Raum für einen Abschied zu geben. Es ist ihr ein Anliegen, den Menschen das zu ermöglichen. Dunkelgrüne Wände, eine Kerze, Blumenschmuck und gedämpftes Licht – der kleine Raum trägt den persönlichen Stempel der Präparatorin. Es ist so ruhig hier, als wäre es der letzte Raum am Ende der Welt. Hierher bringt sie die Verstorbenen, bahrt sie auf, richtet sie her, so gut es geht, damit die Angehörigen sich verabschieden können.

Judith Brauneis weiß, dass Bestatter oft davon abraten, einen Verstorbenen nochmal zu sehen. Sie selbst ist überzeugt: Das geht nicht – man darf der Familie die Möglichkeit des Abschieds nicht vorenthalten. „Ich habe immer alle aufgebahrt, egal, wie jemand aussieht. Es gibt immer eine Möglichkeit. Ich kann nicht entscheiden, ob jemand zu schlimm aussieht. Vielleicht ist das Bild, das die Angehörigen sich von ihrem Verstorbenen ausmalen, ja noch viel schlimmer als die Realität.“

Judith Brauneis gibt sich größte Mühe, bahrt die Toten in weißer Trauerwäsche auf, kämmt Haare, schließt Münder und Augen, sorgt dafür, dass alles sauber aussieht, zündet Kerzen an, verbringt zusammen mit den Angehörigen Zeit bei den Toten, beantwortet Fragen, ist einfach da. Sie erzählt von dankbaren Familien, die zuerst Angst hatten und hinterher unendlich froh waren, sich verabschiedet zu haben. Als Trauerbegleiterin weiß sie: Es macht einen großen Unterschied, ob man den Toten noch einmal sehen konnte, noch einmal anfassen, begreifen, dass er wirklich tot ist.

Unsichtbar

Die Angehörigen sind meist überrascht, dass es hier unten in der Pathologie so etwas überhaupt gibt. Den Keller im Krankenhaus kennt man allenfalls aus dem Fernsehen. „Die Leute kommen hierher in der Annahme, ich würde ihren Verstorbenen aus dem Kühlfach ziehen, und sie könnten mal kurz gucken.“ Durch Film und Fernsehen hat die Öffentlichkeit eine bestimmte Vorstellung von der Arbeitswelt hier unten, die mit der Realität aber nicht zusammenpasst. „Ich muss immer für das Bild der Präparatoren kämpfen“, sagt Judith Brauneis, „weil es uns in der Öffentlichkeit nirgendwo gibt. In keinem Film tauchen wir auf, nirgendwo. Und das, obwohl wir Präparatoren den Verstorbenen am nächsten sind.“ Im Film arbeiten nur die Pathologen an den Toten. Dabei haben Pathologen bis auf die Arbeit am Sektionstisch mit den Verstorbenen wenig zu tun.

Judith Brauneis erinnert sich an den letzten Eberhofer-Krimi: „Der Pathologe – ganz allein im großen Saal, hat die ganze Arbeit gemacht. Das ist immer so kränkend, dass ich dann gar nicht weiter gucken kann. Und es ärgert mich, weil es einfach nicht stimmt.“ Auch das Bild der Toten und der Arbeitsweise in der  Pathologie stimmt für die Präparatorin im Fernsehen nicht: Im Film sehen die Toten immer möglichst schrecklich aus, werden von Pathologen willkürlich irgendwie aufgeschnitten, und daneben macht  jemand noch einen Witz. „Das ist einfach nicht wahr. Wir geben uns alle Mühe, behandeln die Toten mit Würde und nähen sie ordentlich wieder zusammen.“ Für Judith Brauneis ist es somit kein Wunder, dass die Menschen vor ihrem Berufsalltag zurückschrecken. Dass in der Pathologie auch Präparatoren arbeiten, wissen viele nicht. „Wir sind nach außen hin immer so unsichtbar. Aber es gibt uns“, sagt sie.

Ein gutes Gefühl

Dabei ist es ein gutes Gefühl, zu wissen, dass es Menschen wie Judith Brauneis gibt. Tröstlich, zu hören, dass sich hier in der Pathologie jemand kümmert, dass hier jemand ist, der sich Gedanken macht. Der uns als Verstorbene empfängt, wenn wir irgendwann einmal durch den Versorgungsgang hier in die Pathologie gebracht werden. Der uns aufbahrt, mit unseren Angehörigen spricht, einen Abschied möglich macht. Dass es Menschen gibt, die uns auf den letzten Wegen begleiten – wenn es dann so weit ist.

Teil 2 der Reportage: Letzte Wege: Abschied

Teil 3 der Reportage: Letzte Wege: Ruhe

Interview mit Präparatorin Judith Brauneis