»Ruhe hat mit Stille nichts zu tun«

Der ehemalige Unternehmensberater und Familienmensch Gerhard D. im Gespräch über Sinnsuche, Familie und Reisen in Zeiten des Ruhestandes.

Gerhard D. am Tisch sitzend
Vor dem Interview – Gerhard D. Foto: Petra Taint

Am Rande eines Familienfestes treffe ich Gerhard D. in einem oberpfälzischen Brauereigasthof. Sein Sohn feiert im Kreis der Familie 40. Geburtstag. Die Stimmung ist gelöst. Gutes Essen, gute Gespräche, ein schönes Ambiente. Alle Kinder und Enkel verbringen gemeinsam das Wochenende. Familienmensch Gerhard genießt dieses seltene Ereignis. Seit knapp fünf Jahren kenne ich den gemütlichen Schwaben und wir sind inzwischen gut befreundet. Heute erfahre ich mehr über sein Leben im (Un)Ruhestand. 

Du bist im verdienten Ruhestand. Seit wann?

Seit 14 Jahren nun schon.

Was hast du beruflich gemacht?

Ich war in der Systemanalyse IT und Unternehmensberatung tätig.

Was hat sich im Ruhestand für dich verändert?

Ich habe jetzt mehr Zeit für Dinge, die ich vorher nicht gemacht habe, zum Beispiel Singen, Musizieren, Fotografieren. Ich kann die Zeit anders füllen und man nimmt sich für ruhige Sachen mehr Zeit. Auch für Urlaub und Erholung.

Konntest du Hobbies während deiner Berufstätigkeit nicht ausreichend pflegen?

Die hab’ ich erst am Schluss begonnen. Das empfehle ich jedem vor dem Ruhestand, sich gute Hobbies zuzulegen. Wenn man später erst anfängt, hat man richtig Probleme, da hineinzukommen. Ich habe mit Singen und Fotografieren angefangen, das hat mich schon immer interessiert.

War das eine bewusste Entscheidung, in den Ruhestand zu gehen und dann eine sinnvolle Beschäftigung zu haben?

Nein. Ich hab’ das so laufen lassen, das ist organisch gewachsen. Man kann auswählen was Spaß macht und was nicht. Ein wesentlicher Punkt im Ruhestand ist: Was keinen Spaß macht lässt man weg. Das kann man im Beruf nicht, da muss man auch Dinge machen, die keinen Spaß machen.

Welche Rolle spielt dabei deine Familie?

Familie ist natürlich ein ganz großer, starker Faktor. Man hat mehr Zeit für die Familie, sich um Dinge zu kümmern, zu telefonieren. Auch mal zu helfen, wenn Hilfe gefordert wird. Wenn der Sohn im Garten ein Problem hat bin ich da, und wenn die Enkel beaufsichtigt werden müssen bin ich auch da. Und wenn die Töchter einen auch öfter sehen wollen, dann fährt man halt nach München oder (stockt) man kann es aber nicht immer so ganz verwirklichen, weil man ja auch die anderen Hobbies hat. Man kommt dann doch wieder in die Schere rein, dass man alles tun will …

Doch wieder Unruhe?

Ja, da ist die Unruhe schon da, weil man dann auch das Gefühl hat, man muss sich zerteilen.

Die Familie also nicht nur als Ruhepol?

Man sucht schon auch in der Familie die Ruhe. Aber meistens sind es Probleme, die die Kinder haben und man dann meint, die mit lösen zu müssen. Auch wenn man nicht immer dazu aufgefordert wird – es steckt was in mir drin, das sagt, ich muss immer Ratschläge erteilen. Das kommt auch aus der beruflichen Zeit. Das ist immer noch drin.

Bist du eher ein ruhiger oder ein unruhiger Mensch?

Vom Prinzip her eher ein unruhiger Mensch. Der immer auch ein bisschen Unzufriedenheit verspürt, weil er nicht mal im Ruhestand verwirklichen kann, was er wirklich gern will. Ich such’ die Ruhe und finde sie auch ab und zu. Aber es ist schwierig.

Wo findest du die Ruhe?

Wenn ich in den Garten gehe und versuch Ruhe zu finden, indem ich mich auf den Liegestuhl lege, dann dauert das ungefähr zwei, drei Minuten. Dann entdecke ich wieder irgendwas, was ich im Garten zu arbeiten hab’ und mach das. Die richtige Ruhe finde ich dann, wenn ich mal einen Tag lang alles im Garten gemacht hab’, was ich wirklich wollte und dann zufrieden bin. Wenn alles erledigt ist, dann komm ich zur Ruhe. Das ist so die Mischung von Ruhe und Tat. Aber was ich nicht vertrage, ist, im Liegestuhl zu liegen und zu gucken, was alles noch zu tun ist. Das krieg’ ich nicht hin, das werde ich auch nie schaffen.

Ruhestand im Liegestuhl?
Faul im Liegestuhl? Foto: Pixabay

Was möchtest du gerne noch tun?

Ich bin immer im Schwanken, was eigentlich der Sinn ist im Ruhestand. Das ist immer noch ein Thema. Ist Ruhestand etwas, wo man unendlich viel auf Reisen geht und eins nach dem anderen anschaut und erlebt? Oder ist Ruhestand etwas, wo man wieder einen Sinn findet, indem man sich vielleicht sozial engagiert oder wieder in die Unruhe reintreiben lässt? Ist das dann der Ruhestand? Ich weiß es nicht, ich bin mir darüber bis heute noch nicht im Klaren.

Welchen Weg hast du da für dich gefunden?

Der Weg den ich bisher gefunden hab’ ist eigentlich so ein Mischmasch aus beidem. Also sich nützlich machen irgendwo, aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Also sich unter Vermeidung von Stress nützlich machen, es aber trotzdem gutgehen lassen. Es ist eine Mischung, ein Kompromiss, den man schließt.

Ein Kompromiss, den du mit dir selber schließt?

Ja. Ich sag mal als Beispiel: Vor vielen Jahren hab ich als Ruheständler einen Job angetragen bekommen, ehrenamtliche Verwaltung eines Altenheims. Das hab’ ich abgelehnt. Weil das eine Verpflichtung wäre, wo man unheimlich unter Druck steht. Aber das wäre natürlich eine sinnvolle Beschäftigung gewesen. Das ist das eine Extrem. Das andere Extrem hab’ ich bei Leuten erlebt, die wir in Italien auf dem Campingplatz getroffen haben. Die fuhren als Ruheständler das ganze Jahr in Italien rum. Und da hab’ ich gefragt, ja wie ist das dann mit der Familie? Die hatten auch Enkel und so weiter, aber ihnen war es viel wichtiger, in Italien rumzufahren. Ihre Kinder kämen mit den Enkeln allein zurecht, die bräuchten sie nicht. Das ist dann wieder das andere Extrem, wenn jemand nur auf sich schaut, sich ganz egoistisch nur um sich selbst kümmert, dass es nur ihm gutgeht. Das will ich auch nicht. Die Wahrheit liegt in der Mitte, zwischen diesen beiden Beispielen. Also sich schon mal sozial engagieren. Mit dem Chor ein paar Konzerte geben, Leute erfreuen, Spaß rüberbringen. Aber es sich dann wieder einfach gutgehen lassen. Auch in der Familie. So wie jetzt. (lacht)

Du suchst das Gleichgewicht zwischen eigenem Vergnügen und sinnvollem Handeln?

Richtig, richtig. Das Ehrenamt wäre ja quasi ein neuer Vollzeit-Job gewesen, deswegen hab’ ich das auch abgelehnt. Ich bin jetzt im Ruhestand und damit mein eigener Herr. Da soll mir keiner mehr irgendwas vorschmeißen, was ich angeblich nicht oder schlecht gemacht hätte. Das sind berufliche „Freuden“, die ich lang hinter mir hab’. Die will ich auch nicht mehr erleben.

Eine Form von Unruhe, die du nicht vermisst?

Die Unruhe vermisse ich nicht, die ging auch an die körperliche Substanz.

Du hast von Italien erzählt. Du und deine Frau, ihr reist ja auch gern. Wie seid ihr unterwegs?

Das sind normalerweise Campingreisen mit unserem kleinen übersichtlichen Campingbus, wo man auch mal wieder die Einfachheit erleben kann. Daheim haben wir ein großes Haus, eine große Küche, alles groß. Im Bus ist alles klein und man muss damit zurechtkommen. Mit einfachen Verhältnissen zurechtkommen. Und das ist zwischendurch eine sehr, sehr gute Möglichkeit, um wieder zum Wesentlichen zu kommen. Was das Wesentliche so ausmacht … (überlegt)

Das Wesentliche?

Wir sehen auf den Campingplätzen manchmal Leute, die schon fast ganze Häuser mit sich rumfahren. Zu diesen Leuten gehören wir nicht. Wir versuchen wirklich, klein zu bleiben. Mit dem Vorteil, dass man mal durch ein kleines, enges italienisches Dorf fahren kann, wo die großen Kisten weder durchfahren dürfen noch können, weil sie gar nicht durchpassen. Auf die Art sieht man natürlich viel mehr. Und erlebt auch viel mehr. Wir lieben die Langsamkeit beim Reisen . Da denke ich an Fahrten, wo wir am Tag vielleicht 50 Kilometer zurückgelegt haben. Über irre Straßen, wunderliche, nicht asphaltierte Straßen. Dann halten wir irgendwo an und genießen die Gegend, das gehört auch dazu. Ohne Tempo, ohne alles.

Ihr verlasst also auch mal eure vorgegebene Reiseroute und seid flexibel?

Ja! Das ist zwar nicht immer so, aber es ist ein Traum. Wenn wir natürlich irgendwo fix ankommen müssen, dann werden Etappen geplant und wir versuchen, die dann auch ungefähr einzuhalten. Aber wenn es uns wirklich irgendwo gefällt, dann ändern wir halt manchmal unseren Plan. Und dann gibt es natürlich auch oft Ereignisse, die uns daran hindern, so einen Plan zu realisieren. Wie zum Beispiel dieses Jahr an Ostern, in Spanien, wo wir mit dem öffentlichen Bus nach Portugal fahren wollten. Vom Campingplatz aus. Um dann zu erfahren, dass genau am Gründonnerstag der Bus nicht fährt, weil Gründonnerstag der heiligste Tag der Spanier ist. Das haben wir vorher nicht gewusst, na ja, dann hat man es halt anders gemacht. Da wird die Flexibilität gut trainiert. (schmunzelt)

Da gibt es dann keine Hektik oder Unruhe?

Da komme ich nicht in Unruhe, nein, nein. Beim Reisen hab’ ich, im Gegensatz zum sonstigen Alltag, mal die beste Chance, die Gegenwart zu genießen und die Zukunft oder die Vergangenheit außen vor zu lassen. Die Gegenwart: So, da sind wir grade, da ist es schön, da setze ich mich hin und dann schau ich mich mal um und schau in die Gegend. Das krieg ich beim Reisen am besten hin.

Also ganz bei dir zu sein?

Ja!

Welche Rolle spielt dabei die Stille?

Stille? Ich brauch nicht unbedingt Stille dazu. Das hat damit nichts zu tun. Stille hat mit Ruhe gar nichts zu tun. Also ich erleb auch Ruhe, wenn ich auf dem Campingplatz bin. In Süditalien, da ist nebenan eine Disco und die Leute sind lustig und ich hör’ das. Da hab ich absolute Ruhe und höre mir trotzdem die Musik an und reg mich nicht auf. Also das hat mit Stille fast nichts zu tun. Wenn die so laut sind, dass mir die Ohren glühen, natürlich schon, aber es muss nicht still sein. Das ist für mich absolut kein Thema.

Lieber Gerhard, dann bin ich jetzt aber mal still und entlasse dich wieder in den Trubel. Vielen Dank für das Gespräch und noch viel Spaß bei eurer Feier!

Leerer Biergarten im Herbst
Die Feier kann beginnen. Foto: Petra Taint