Freiraum leben

Kein Kind – na und?

8. Mai 2018

Kein Kind – na und?

Jede kinderlose Frau um die 30 kennt diese Frage: „Und?! Wann ist es bei euch soweit?“ Frauen, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden, haben es oft schwer. Aus beharrlichem Nachfragen kann blanker Hass werden, wie zwei öffentliche Beispiele zeigen. Die deutsche Fernsehmoderatorin Sarah Kuttner erklärte in ihrer Talkshow, sie wolle keine Kinder. Daraufhin wurde die 39-Jährige im Netz heftig kritisiert und musste sich in mehreren Interviews rechtfertigen. Ähnlich erging es ihrer britischen Kollegin Holly Brockwell, die vier Jahre lang darum kämpfte, einen Arzt zu finden, der sie sterilisiert. Dafür bezeichneten die User in den Sozialen Netzwerken die 32-Jährige als „herzlos“, „egoistisch“ und „psychisch krank“. Warum stoßen gewollt kinderlose Frauen im 21. Jahrhundert so viele Menschen vor den Kopf? Das erklärt die Gender-Expertin und zweifache Mutter Prof. Dr. Paula-Irene Villa im Interview.

„Nur eine Mutter ist eine richtige Frau.“ „Ein Kind ist das größte Glück im Leben.“ Was geht Ihnen bei solchen Aussagen durch den Kopf?
Als Mutter kann ich der Aussage, Kinder seien ein großes Glück, voll zustimmen. Kinder als Teil des eigenen Lebens sind unvergleichlich wunderbar. Problematisch finde ich allerdings, wenn die Gesellschaft diese Ansicht jedem überstülpen will. Das ist nicht nur unnötig und kränkend, sondern auch schädlich.

Schädlich?
Ja, weil damit eine Pathologisierung einhergeht: Wer anders denkt, ist ein Freak, hat einen an der Waffel und muss zum Arzt. Nur, weil die vorherrschende Norm ein Kind als absolute Erfüllung der Weiblichkeit ansieht, muss das noch lange nicht für alle Frauen gelten. Außerdem: Am Leben eines Kindes teilzuhaben – egal, ob als leibliche Mutter oder als eine andere Bezugsperson – ist zwar eine unbeschreiblich schöne, bereichernde Erfahrung. Aber viele andere Dinge im Leben sind das auch. Diese anderen Dinge als minderwertig oder als Trostpreis anzusehen, das ist Unsinn.

Warum müssen sich gewollt kinderlose Frauen auch heute noch für ihre Entscheidung rechtfertigen?
Der historische Ursprung dieses Rechtfertigungszwangs liegt im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert, als sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft herausbildete. Aus dieser Zeit kommt das Muster, dass sich natürliche, „normale“ Weiblichkeit allein in der Mutterschaft verwirklicht. Durch die Frauenbewegung, ökonomische Dynamiken, neue Technologien und Einsichten aus den Naturwissenschaften, hat sich seitdem vieles verändert. Heute können Frauen öffentlich sagen: ‚In mir ruft nichts, da tickt keine Uhr.‘ Nichtsdestotrotz irritiert eine solche Haltung immer noch.

Warum?
Weiblichkeit gleich Mutterschaft – das ist zwar veraltet, bildet aber immer noch die Basis dessen, was wir als Frausein wahrnehmen. Dieses historische Muster ist immer noch so gewichtig, weil es einer biologischen Begründung folgt: Eine Frau hat im Gegensatz zum Mann eine Gebärmutter und sollte sie daher auch benutzen. In der Moderne geben nicht Moral oder religiöse Zwänge vor, dass eine Frau Kinder bekommen soll, sondern – angeblich – die Natur. Eine Frau, die keine Kinder bekommen möchte, gilt demnach als widernatürlich.

Kann man von einem Mythos der Mutterschaft sprechen?
Ja, es gibt sogar mehrere Mutterschafts-Mythen. Wie alle Mythen haben auch diese ihre Berechtigung, weil sie positive Funktionen haben können: Mutterschafts-Mythen strukturieren Gesellschaften und können auf individueller Ebene sinnstiftend sein. Das Problem an Mythen ist jedoch, dass sie an der Wirklichkeit vorbeigehen, weil nur ein Teil der Gesellschaft entsprechend lebt.

Wie meinen Sie das genau?
Nehmen wir als Beispiel den Mythos der mütterlichen Selbstlosigkeit. In Westeuropa ist Mutterschaft stark mit Zurückstehen verknüpft und mit der Vorstellung, sich aufzuopfern. Die Frau stellt sich ganz in den Dienst der Familie und geht eine Symbiose mit dem Kind ein, welche sie als totale Erfüllung erlebt. Darin steckt ein wahrer Kern. Jeder, der sich um ein Lebewesen kümmert – egal ob Haustier, Kind, Pflanze oder Freund – und aufrichtig an dessen Leben teilnimmt, stellt sich selbst zu einem gewissen Grad zurück. Aber: Der Mythos überhöht die Selbstlosigkeit und erklärt sie zum eigentlichen Kern von Mutterschaft. Das verzerrt die Realität, denn Symbiose ist nicht der alleinige Zustand von Mutterschaft.

Was bedeutet Mutterschaft noch?
Mit einem Baby ist man rund um die Uhr belegt. Wenn man sich darum kümmert, kann man nicht durchschlafen, kann nicht auf die Toilette gehen und nicht essen, wann man möchte. In solchen Phasen ist Mutterschaft mitunter überhaupt nicht erfüllend, sondern zum Verrücktwerden. So etwas muss man sagen dürfen, es darf kein Tabu sein. Nur, weil man manchmal an seine Grenzen stößt, ist man noch lange keine schlechte Mutter. Ich finde sogar, dass Momente des Bereuens zu jeder innigen, intensiven Beziehung dazugehören. Das ist das Negative am Mutterschafts-Mythos: Er überlagert die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Mutterschaft. Dadurch verhindert er, dass diese Aspekte öffentlich anerkannt werden können.

Jahrzehnte Feminismus haben an diesen Mutterschafts-Mythen nichts geändert. Warum?
Ich sehe es anders [zeigt auf ihren Kaffee]: Die Tasse ist halbvoll, nicht halbleer. Vieles hat sich geändert. Was früher ein Tabu war, ist heute thematisierbar. Immer mehr Frauen sagen offen: ‚Mir fehlt nichts ohne eigene Kinder‘. Meiner Meinung nach ist es ein Indikator für Veränderung, dass dieser Lebensentwurf auch heute noch Viele irritiert

Welche Auswirkungen können Mutterschafts-Mythen auf junge Frauen haben?
Viele junge Frauen machen sich falsche oder nur teilweise richtige Vorstellungen von Mutterschaft. Das ist sehr traurig. Manche sehen Mutterschaft als Lebensprojekt, das erst angepeilt werden darf, wenn finanziell und sozial wirklich alles stimmt. Die Familienplanung folgt – wie vieles andere in der modernen Gesellschaft auch – einer Perfektionslogik. So verdirbt man sich unter Umständen die Freude am Muttersein oder schreckt ganz davor zurück. Die Normalität des „Durchwurstelns“, des Nicht-Perfekt-Seins, geht verloren. Junge Frauen sehen sich vor einer Entweder-Oder-Entscheidung: Beruf oder Kind. Faktisch arbeiten nach wie vor deutlich mehr Mütter als Väter in Teilzeit oder nehmen angemessene Elternzeit. Das führt in sehr traditionelle Konzepte von Elternschaft hinein, was in Bezug auf Erwerbseinkommen und Rente für Frauen ein handfestes Problem ist. Besonders, wenn es zu einer Scheidung kommt.

Dem überhöhten Mutter-Ideal steht die Tatsache gegenüber, dass von Frauen geleistete Sorgearbeit gesellschaftlich kaum honoriert wird. Was müsste sich für die Zukunft ändern?
Im Vergleich zu früher erfahren Frauen durchaus Wertschätzung für ihre Leistung als Mutter. Der Punkt ist, dass sich diese Wertschätzung nicht in Geld oder anderen Sicherheiten niederschlägt. Deshalb knirscht es ja auch überall dort heftig, wo diese Sorgearbeit hervorragend geleistet wird: in Kindergärten, in Krankenhäusern, in Betreuungseinrichtungen, bei Tagesmüttern. Wir brauchen eine Debatte darüber, wie sich Sorgearbeit organisieren lässt. Schließlich ist das eine gesellschaftlich absolut notwendige und überaus wichtige Tätigkeit.

Sie sind Mutter zweier Kinder. Was bedeutet Muttersein für Sie persönlich?
Eine große Freude. Manchmal die Hölle. Sinnstiftend und unbeschreiblich schön.

Prof. Dr. Paula-Irene Villa von der Ludwig-Maximilians-Universität München
Foto: privat

Prof. Dr. Paula-Irene Villa (49)

  • verheiratet, zwei Kinder
  • Leiterin des Lehrstuhls für Soziologie und Gender-Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München
  • Promotion: „Sexy Bodies: Eine soziologische Reise durch den Geschlechterkörper“
  • Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (seit 2013)
  • Vorstand der Sektion „Soziologie des Körpers und des Sports“ (seit Juli 2016)
  • Organisatorin der Veranstaltungsreihe „Gender Salon“

 


Quelle: WDR planet wissen / youtube.com

Buchempfehlungen:

  1. Sarah Diehl: „Die Uhr, die nicht tickt: Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift“ (2014), Arche Verlag
  2. Anja Uhling und Sonja Siegert: „Ich will kein Kind: Dreizehn Geschichten über eine unpopuläre Entscheidung“ (2013), Mabuse-Verlag