Kunst, Kultur und Kulinarik –  Das Château d’Orion inspiriert zu Geistesblitzen und  zelebriert Sinnenfreude in atemberaubender Naturkulisse: Ein Leben wie Gott in (Südwest-) Frankreich.

Wild weht der Wind durch die Krone der riesigen Platane vor meinem Fenster und bringt würzige Luft ins Zimmer im ersten Stock des grandiosen Herrenhauses. Eine Spur von Salz, herübergetragen von der Atlantikküste, vermischt mit einem Hauch vom Harz der Seekiefern rund um die Biscaya-Bucht im Westen? Dem Duft der Bergkräuter und dem ewigen Eis der ebenso nahen, eine knappe Autostunde entfernten Hochpyrenäen im Osten? Womöglich kommt dieser Wohlfühlgeruch auch nur aus dem Küchengarten dieses Schlösschens am Rande des kleinen Dorfes Orhez. Es liegt – umgeben von sanft gerundeten, bewaldeten Hügeln, sattgrünen Wiesen und weiten Tälern – auf einer Anhöhe so ziemlich im Mittelpunkt der Provinz Béarn. Diese bildet zusammen mit dem französischen Baskenland das Département mit dem lyrischen Namen Pyrenées-Atlantiques. Allein der schon signalisiert: Sehnsuchtsort!

 Liebe, Hiebe & hochherrschaftliche Triebe

Angesichts der reichen Historie wird dieser Landstrich auch „Nouvelle Aquitaine“ genannt: Hatte hier doch im zwölften Jahrhundert Eleonore von Aquitanien die liebeswerbetechnische Tradition der Troubadoure (aber auch der Kreuzzüge) begründet. Die Erbin des Herzogtums und dessen Landesherrin erlag selbst gerne dem Minnesang und Eroberungsdrang damaliger Alpha-Männer: 1137 heiratete sie den späteren König Ludwig VII von Frankreich. Nach Auflösung dieser ersten Ehe 1152 kam der nicht minder bedeutende Gatte Nr. 2: Heinrich Plantagenet, der 1154 König von England und drei Jahre später Vater von Eleonores Sohn Richard Löwenherz wurde. Geradezu erschlagend, die Geschichtsträchtigkeit dieses so besonderen Winkels der Welt, denke ich beim Eindösen und lasse dabei die ersten Eindrücke nach meiner Ankunft vor dem inneren Auge Revue passieren.

Abkühlung im Flüsschen, das durch den malerischen Ort Sauveterre rauscht. Foto: Sebastian Hartz

Draußen vor dem in der Abendsonne gelbgolden schimmernden Sandstein-Bau hatte sich eine Gästeschar eingefunden, zum Großteil aus der Gegend. Baskenmütze trägt an diesem Julitag keiner, aber alle die typischen Espadrilles: leichte Leinenslipper mit Bastsohlen in allen möglichen Farben. Total authentisch (und im Lagerverkauf günstig), wenn sie aus der Schuhfabrikations-Kapitale Mauléon-Licharre stammen. Ein Muss auf meiner Planungsliste für Erkundungstouren.

Sie hatten sich fast gebogen, die mit lokal gekauften oder vorzugsweise selbstgemachten Spezialitäten überladenen Holztische. Der Hitze des letztjährigen Jahrhundertsommers geschuldet mal nichts mit der berühmten Sauce Béarnaise. Dafür Unmengen baskischer Tapas, genannt „Pintxos“: Chorizo-Würstchen, luftgetrocknet oder knusprig vom Grill, der berühmte Schinken aus Bayonne, Pasteten, gefüllt mit Atlantikfischen, Meeresfrüchten oder fangfrischen Bachforellen. Unzählige Käsesorten von der Kuh, die scheinbar hier überall so glücklich grast, dass man sie zum Wappentier der Region erheben müsste.

Schafskäse wie der Bébris oder Ossau-Itaty von der Ziege. Quiches aus heimischen Gemüsesorten, kräftig aromatisiert mit Chilipfefferschoten aus dem Bergdorf Espelette. Und klar, hier kann sie nicht fehlen, die Foie Gras. Von den jährlich in Frankreich produzierten 20 000 Tonnen Gänse- oder zunehmend Entenstopfleber kommen drei Viertel aus dem Südwesten. Zum krönenden Abschluss dann die kleinen, gugelhupfartigen Canelès mit Karamellkruste und natürlich die berühmten „Gâteaux Basques“, mit Schwarzkirschmarmelade und Sahne gefüllte Kuchen.

Ziemlich gleichgesinnte Genussmenschen: Das Béarn als Sammelbecken einer internationalen Community

Es ist ein Nachbarschaftsfest, und da lässt sich in punkto gastronomischer Mitbringsel keiner der hier versammelten Béarnaisen oder deren Frauen lumpen. Und schon gar nicht die vielen „Ex-Pats“, vornehmlich englische, US- und lateinamerikanische, kanadische, auch viele deutsche, schweizer-, österreicher-  oder skandinavische Auswanderer, die sich hier in den letzten zwei Jahrzehnten angesiedelt haben. David McKenzie, Brite, früherer Cricket-Champion, Brexit-Gegner und begeisterter Béarn-Resident, bringt die Sache auf seinen persönlichen Standpunkt: „Was soll ich noch in Great Britain, wenn ich es hier in Klein-Britannien so viel besser habe? William the Conqueror kam von dieser Küste. Schätze, auch ich habe seit 1066 damit ein Heimatrecht in unserem Stammland.“ Politisch interessantes Argument, mal sehen, ob er das seinem Parlamentsabgeordneten als Debattierpunkt bei Austrittsnachverhandlungen nahelegt. McKenzie wäre das zuzutrauen, der Mann ist eine Kämpfernatur, egal auf welchem Rasen.

Zweifel an dieser These hat Paul Selinger, Germanist und Leiter des Heinrich-Mann-Instituts in der 20 Autominuten entfernten Kleinstadt Pau. Während um uns herum diverse Musikinstrumente angestimmt werden und viele Gäste sich zu abwechselnden Chorgruppen formieren, baskische Volkslieder singen und dazu immer ausgelassener tanzen, referiert Selinger ausführlich über einen anderen Heinrich: Den von Navarra, 1553 in Pau geboren und später, bis zu seiner Ermordung 1610 in Paris, ebenfalls König von Frankreich, einst Vorfahrin Eleonores erster Gatte. „Lo nòtre bon rei Enric“ nennen die Einheimischen Henri IV heute noch liebevoll im okzitanischen Dialekt, „unseren guten König Heinrich“. Über den hat Thomas Manns Bruder, Heinrich heißt er, wie sonst, hier in Pau seinen „Heinrich IV“ geschrieben.

Vinikultur & Savoir Vivre

Selinger ist ein wandelnder Almanach der royalen wie lokalen Geschichte und verkündet lustvoll und mit viel Esprit Details der hiesigen Lebensart gestern wie heute: etwa dass jenem ersten Bourbonenherrscher Henri schon als Baby die Lippen mit dem vollmundigen Jurancon-Wein hier aus der Gegend benetzt worden seien. Und genau dieser jetzt noch, mehr als tausend Jahre später, um die Ecke, auf der Domaine de Cabbarrouy, von seinem Freund Patrice Limousin gekeltert werde. Ob ich den auf einer Spritztour dorthin und vielleicht weiter in die Berge mal probieren wolle? Welche Frage, obschon die hier heute passend zur baskischen Folklore offerierten Tropfen wie der Irouléguy und der Txakoli eine köstliche Einführung in die lokale Vinikultur sind. Das spirituös/spirituelle Wohlergehen der Gemeinschaft beschäftigt auch den Pfarrer der uralten Dorfkirche neben dem Schlossgelände: „Ca va bien, vôtre vie liquide aussi?“, „Geht’s Eurem flüssigen Leben auch gut?“, fragt er so poetisch wie priesterlich, bevor er sich und uns nachschenkt, durchaus generös.

Einen Lebenstraum verwirklichen

Zu den Zugereisten zählt das Schlossbesitzer-Paar Elke Jeanrond-Premauer und Tobias Premauer, Eltern zweier erwachsener Kinder. Seit 42 Jahren verheiratet mit dem nunmehr pensionierten Top-Manager eines Münchener Automobilkonzerns, riskierte Elke 2002 nahezu ihre Ehe: Als sie sich auf der Suche nach einem kleinen Ferienhaus im Süden auf den ersten Blick in das dreistöckige und so grandiose wie vom Verfall bedrohte Schloss verliebte. Spontan fuhr sie ihre Karriere als TV-Journalistin und Dokumentarfilmerin herunter und drängte ihren Mann, sein Erbe in ihren Traum zu investieren: „Einen Ort schaffen, von dem aus ein globales, geistiges Netzwerk entsteht.“ Mithilfe der Familie und vieler Freunde restaurierten die beiden nach und nach die Gebäude und was sich im Schloss sonst so fand: Louis-Seize-Möbel, alte Gobelins und Stiche, Gemälde, Bücher, Kunstobjekte und charmante Gebrauchsgegenstände aus früheren Zeiten. Teilweise über hundert Jahre alte Modejournale, antike Ballkleider, feinsäuberlich versehen mit Anmerkungen, wann, wo und mit welchen Accessoires sie dereinst getragen wurden. Fächer, Tafelsilber, edles Porzellan aus Sévres und Limoges und geschliffene Kristallgläser. All das kommt zum Einsatz, in jedem der zwölf individuell gestalteten und eingerichteten Schlafzimmer, in der großen, gemütlichen Gemeinschaftsküche und den hochherrschaftlichen Gesellschaftsräumen. „Mein Herz hüpft jedes Mal von Neuem, wenn ich solche Schätze ausgrabe“, sagt Elke und präsentiert freudestrahlend Fundstücke, die sie in den Kellern, auf den Dachböden, in der Remise oder auch der Schlosskirche entdeckt hat. Einen hölzernen Guckkasten beispielsweise, ca. anno 1870, mit dreidimensionalen Ansichten des damaligen Anwesens.

Wissenschaft und Wissbegierde

Mit den Jahren haben die Premauers der Schlossruine ihren alten Glanz zurückgegeben und eine ganz besondere Begegnungsstätte geschaffen. Wenn nichts weiter los ist, fungiert das Château als „Chambres d‘ Hôtes“, Pension mit Gästezimmern. Gehobenerer Kategorie, versteht sich, inklusive Familienanschluss. Neben diversen kulturellen Aktivitäten wie Konzerten, Ausstellungen, Lesungen und Diskussionsrunden – auch mal Hochzeiten oder großen Familienfeiern für zahlende Gäste – haben sich die so mit Fug und Recht genannten „Denkwochen“ als Kernstück des Lebens auf Orion herauskristallisiert. „Salon auf Zeit“ nennt die geniale Gastgeberin Elke ihre Offerte, Besucher der hier zehn bis zwölf Mal im Jahr angebotenen Seminare für maximal 14 Personen sieben Tage lang in jeder Hinsicht zu verwöhnen: Atmosphärisch, genussbetont, intellektuell und von ganzem Herzen.

Dazu holt sie sich renommierte Referenten ins Haus. Julian Nida-Rümelin, deutscher Ex-Kulturstaatsminister, Schriftsteller und Philosophen wie Rüdiger Safranski oder Rainer Moritz, der eine Lesewoche über Michel de Montaignes „Essais“ abhält. Zum Dozentenstamm gehören Kunsthistoriker Jean-Christophe Amann, die Anthropologen Constantin von Barloewen und Gala Noumova und der Romanik-Kenner Thorsten Droste, der hier immer mal wieder über die anschwellende Pilgerbewegung auf dem um das Schlossgelände führenden Jakobsweg referiert.

Schon lange nun ist auch Elkes Mann Tobias mit Enthusiasmus und Elan dem „L’Art de Vivre“ von Orion verfallen. Dauerbaustelle hin oder her. Kleiner Beweis: Seine geliebte, himmelblau-weiße Isetta fand mittlerweile hier ihren permanenten Parkplatz. Stilvoll hat Tobias geflochtene Einkaufskörbe auf ihre kleine Karosserie montiert. Und genießt die Blicke, die ihm und seinem niedlichen Gefährt auf den Landsträßchen und den Gassen rund um die Marktplätze der idyllischen Ortschaften rundherum geschenkt werden.

Im pittoresken und quirligen Küstenstädtchen Guétary etwa, mit seinen die französische Flagge zitierenden zumeist blau-weiß-rot gestrichenen Villen und verschachtelt gebauten Holzhäuschen. Dicke Hortensienbüsche in ebendiesen Farbschattierungen unterstreichen das maritime Flair. Hierher, schnell auch mit der Lokalbahn von Biarritz aus zu erreichen, verzieht sich ein Gutteil der Pariser Intelligentsia zu ausgedehnten Ferien, im eigenen Haus, versteht sich. Zum Beispiel Fréderic Beigbeder, früher Enfant Terrible der Szene, und sein guter Kumpel Michel Houellebecq, beide mittlerweile so etwas wie Elder Statesmen  des Kulturbetriebs. In Guétary  treffen die beiden auf  Strand- und Gartenparties oder einfach mal so zum Apéro oft und gerne ebenfalls hier ansässige Schriftstellerkolleginnen wie Amélie Nothombe.

Zur Spritztour mit Gästen von Orion ins auf 2000 Höhenmeter gelegene Bergdorf Larrau nimmt Tobias Premauer dann doch eher seinen BMW. Der hügeligen Almenlandschaft folgen bald Haarnadelkurven. Und sicher macht er Station an spektakulären Schluchten wie Kakouetta oder Holzarte mit der gigantischen Hängebrücke.

Nur einen Katzensprung vom Schloss entfernt dann malerische, mittelalterlich geprägte Ortschaften: Unmöglich zu entscheiden, welche denn die schönste dieser Perlen ist: Sauveterre mit seiner beeindruckenden Kirche und dem Wildwasserfluss, der durch das bezaubernde Städtchen rauscht?  Das trutzige Navarrenx mit seinen mächtigen Wehranlagen? Das sanfter anmutende Saliès-de-Béarn mit seinen Salinen, Salzwasserthermen und dem Belle-Époche – „Hotel du Parc“ mit dem trotz einarmiger Banditen & Co. immer noch herrlich altmodischem Casino? Auf der Terrasse dort begegnen mir merkwürdig aus der Zeit gefallen erscheinende Gestalten: Gentlemen in Knickerbockers und mit pomadisiertem, streng gescheitelten Haar, am Arm Ladies mit Wasserwelle, strassbesetzten Stirnbändern, Federboas, in flapperartigen Fransenkleidchen… Kleine Halluzination, dem Spirit von Orion sei Dank? Ein Flashback zu Woody Allens „Midnight in Paris“, umgemünzt auf „Midi au Béarn“? Nein, mein ungläubiger Blick wohl veranlasst die Truppe, sich höflich vorzustellen: Amerikanische Literaturwissenschaftler, die im nahen Toulouse an einem Kongress über US-Schriftstellergiganten des 20. Jahrhunderts teilnehmen. Sich einen Jux daraus machen, in passenden Outfits zu einem für später anberaumten Dinner an ebendiesem Ort aufzulaufen, wo vor bald 100 Jahren Helden der Moderne wie Ernest Hemingway oder F. Scott Fitzgerald und seine Zelda auf dem Weg zu den Stierkämpfen im spanischen Pamplona gerne Station machten.

 

Am morgigen Tag steht auf Orion eine Diskussionsrunde an. Hochaktuelles Thema speziell im Vorfeld des für die kommende Woche in Biarritz anberaumten G-7-Gipfels im Hotel de Palais, einstige Sommerfrische von Napoleon III und seiner Kaiserin Eugénie: Sinn und Unsinn der Idee von Europa als Nation. Im zum Veranstaltungssaal samt überbordender Bibliothek und Konzertflügel umgebauten alten Pferdestall wird das Konzept kontinentaler Identität und Pluralität auseinandergepflückt. Damit das Treffen vieler aus der Umgebung Angereister Freunde des Schlosses aber nicht zu ernst ausklingt, sorgt bestimmt danach die ebenfalls im Béarn lebende US-amerikanische Singer/Songwriterin Julie Lambert alias Ruby A mit einer Truppe lokaler Gospelsänger für ähnlich ausgelassene Stimmung wie heute Abend auf dem Fest.

Lebendige Geschichte(n)

Wie Tänzer wirken die wogenden Wolkenformationen, die der Nachtwind um eine fahle Mondsichel treibt. Sie wiegen mich in den Schlaf und verfolgen mich wohl in meine Träume. Jäh wache ich auf und meine – verborgen in den riesigen weißen Seidenvorhängen, die sich vor dem Fenster bauschen – einen schattenhaften Schemen zu sehen. Es ist neblig, sowieso, und Schlossgespenster gibt’s hier nicht, hatte mir Elke versichert. Durchaus aber den Geist und die Spuren jener Menschen, die seit einem halben Jahrtausend in diesem Herrenhaus gelebt, gewirkt, geliebt und gelitten haben.

Wie die junge, dunkelhaarige, glutäugige Frau auf dem verblichenen Foto im Silberrahmen, das auf der Konsole über dem Kamin in meinem Zimmer steht. Auf sie fällt mein verschreckter Blick und dann wird mir klar: Sie ist als Haremsdame verkleidet, das schleierhafte Wesen in der Gardine war kein Spuk, sondern das Bild, das meine überstimulierten Synapsen sich im Schlaf von ihr gemacht haben: Madeleine Reclus, im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Tochter dieses Hauses.

Madeleine und die Männer: Stories, so bittersüß wie in Lindenblütentee getauchte Biskuits bei Proust

Von ihr wird mir später eine „Grande Dame par Excellence“ erzählen, die hochbetagte Marguerite Labbé, verwitwete und kinderlose Vorbesitzerin des Chateau d’Orion, der die Premauers ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt haben. Jeden Mittag und Abend bringt Elke Madame Labbé selbstgemachte Schonkost in die Bel Etage, wo sie Labbé mit einer Pflegerin residiert und liebend gerne in lebhafter Konversation vergangenen Zeiten nachsinnt. Die Diplomatentochter, während des Zweiten Weltkriegs im Vatikan aufgewachsen, wirkt mit ihren nunmehr fast 100 Jahren mädchenhaft. Wenn sie etwa trotz eingeschränkter Beweglichkeit erstaunlich graziös den Knicks andeutet, den sie damals vor Papst Pius XII zu machen hatte. Ihre alterstrüben Augen changieren ins Kornblumenblau der Jugend, wenn Madame Labbé strahlend und bisweilen mit Schalk im Blick auf die Familiengeschichte ihres Mannes Jean zu sprechen kommt: Besagte Madeleine nämlich, die Odaliske vom Foto und mein ureigener Nachtmahr in der Gardine, war die Schwester von Madame Labbés Schwiegermutter Marie. Letztere galt zwar, wie auch ihre Schwester, als eine der größten Schönheiten und „Salonnières“ ihrer Zeit und versammelte schon damals Geistesgrößen in ihrem Schloss. Zitierte bei aller Weltläufigkeit aber auch tagtäglich die Familie an ihr Paradebett, um all ihren Lieben, vor allem den sündigen, aus der Bibel vorzulesen.

Madame Labbé zieht amüsiert, spöttisch und unnachahmlich elegant eine Braue hoch, als sie dagegen Maries Schwester Madeleine als „größte Herzensbrecherin des Landes“ beschreibt. Und im Zuge ihrer ganz persönlichen „Suche nach der Verlorenen Zeit“ ein feinzisiliertes Ledertäschchen hervorkramt, auf das in Goldlettern „Botaniques des Belles“ geprägt ist. Ein proustianisch anmutendes Schatzsäckchen, sozusagen, das tatsächlich den „Schatten junger Mädchenblüte“ enthält. Anno dazumal nämlich verstauten die Mädchen darin gepresste Blumen und andere kleine Liebesgrüße und vermerkten auf kleinen Büttenkärtchen akribisch und in gestochen steiler Kielfederschrift in kaum verblasster Tinte, welcher Verehrer sie ihnen wo, wann und wie überreicht hatte. Häufigste Adressatin solcher „Billets doux“: Madeleine, natürlich. Der Kavalier, welcher am meisten nach ihr schmachtete, war wohl ein gewisser Emmanuel Berl: Schriftsteller und guter Kumpel von André Malraux, dem großen Intellektuellen, führenden Kopf der Résistance und späteren Staatsmann unter der Regierung de Gaulle. Die schöne Madeleine und ihre Männer, dahinter verbergen sich Geschichten, die wohl auch Geschichte machten.Berls Heiratsanträge wies sie zurück, woraufhin der von anderen Künstlerfreunden des Hauses (und vermutlich ebenfalls von Madeleine Verschmähten), eine kleine, feine Rachegabe fertigen ließ: Eine bibliophile Kostbarkeit, dieses Büchlein mit Sonetten von Paul Verlaine, suggestiv illustriert vom Maler Henri la Fargue, das im Original bis heute in Madame Labbés Besitz ist und der alten Dame ein halb verschämtes, halb verzücktes „O, là, là!“ entlockt. „Les Amies: Scène d’amour sapphique“ lautet der Titel. Lesbische Neigungen dagegen unterstellte der Dichter und Schriftsteller Henri de Régnier, ein enger Freund des Romanciers André Gide, der von all diesen Männern angebeteten Madeleine wohl kaum. Er schrieb an sie: „Ich liebe Ihr Haus, das den Namen eines Sterns trägt, den Ihre Augen erhellen, deren Glanz mal funkelt oder sich verschleiert…“

Memento Mori – Ein Mahnmal mit Message

Dieses Haus, oft vom Untergang bedroht, stand auch Pate für eine wichtige Widerstandsorganisation: Das „Resau Orion“. Auf  den verwitterten Grabsteinen rund um die kleine Schlosskirche und dem Dorffriedhof findet man die gleichen, eben dieses Netzwerk ausmachenden Namen wie auf einem Denkmal, das gleich links von der Hauptauffahrt zum Schloss steht. Im September 1985 wurde es feierlich von Vertretern der Regierung Mittérand enthüllt. Ganz oben über der langen Liste Kriegsgefallener aus der Region ist dieser Satz in Stein gemeißelt: „Paul Labbé a donné le nom de son village au resau Orion fondé en 1940“. Dieser Paul, der den Namen seines Heimatdorfes zu dem eines wichtigen Netzwerks der Résistance machte, hätte Madame Labbés Schwager sein können, wäre er nicht ermordet worden. Wie wohl viele hier hat er sicher geahnt, was zu der Zeit das knapp 20 Kilometer entfernte und heute als Freiluftmuseum fungierende Lager Gurs bedeutete: Todeszellen für die meisten der Insassen, Umschlagbahnhof nach Auschwitz und andere nazi-deutsche Konzentrationslager für die anderen.

Die Dunkelheit ans Licht bringen

Auch solch schwarze Kapitel der Geschichte werden in der einen oder anderen „Denkwoche“ immer wieder mal thematisiert. Anfang  Mai, so Corona will, aber erst mal Erbauliches:  „Kulinarische Liebesgeschichten“, ein Kochkurs mit Chef Manuel Kohler und der Food-Fotografin Katharina Pflug samt Exkursionen zu lokalen Produzenten und Märkten. Im Anschluss dann etwas, das uns Alle in Krisen voranbringt: „Selbsterkenntnis für Mutige“ (10. – 16.5.) Über tiefenpsychologische Konsequenzen des „Zweiten Gehirns“ will dann gleich der KI- und Produktivitätsexperte Tiago Forte philosophieren (17. – 23. 5.). Den Sommer über wird über Interkulturalität nachgesonnen, auf den Spuren von Krimiautor Georges Simenon gewandelt und Kunstverständnis in einem Malkurs vertieft. Zum Herbst hin ist eine Schreibwerkstatt mit dem Literaten-Ehepaar Amelie Fried und Peter Probst geplant (27.9. -3.10.) und zum Jahresausklang hin eruiert die Sängerin, Stimmtrainerin und soziale Aktivistin Jocelyn B. Smith, wie man in herausfordernden Zeiten seine eigene Stimme finden und erheben kann (6.-12.10.).

Dem Geist Vorrang und der Kultur Würde verleihen

Das  ist die Maxime der Premauers, die Motivation und der Spirit, der ihr Château d’Orion durchwirkt. Dazu eben auch diese Prise Leichtigkeit, die Elke als „Wellness für Hirn und Herz“ bezeichnet. Mit dieser Mischung schaffen sie elementare Erfahrungswelten voller Inspiration. Und machen ihn spür- und nachvollziehbar, diesen Genius Loci, der den Gedanken Substanz verleiht und die Sinnlichkeit beflügelt.

 

Mehr Info oder Anmeldungen unter Chateau d’Orion oder telefonisch unter  +33 (0)5 59 65 07 74.

Wer sich weiter einstimmen möchte auf diesen Landstrich zwischen Ozean und Hochgebirge und so „La France Profonde“, die tiefe Seele der Nation erkunden möchte, kann sich freuen auf Alexander Oetkers „Gebrauchsanweisung für Bordeaux und die Atlantikküste“ (15 Euro), die am 2.6. bei Piper erscheint. Oder auch vorab in die Region eintauchen mit seiner bisher dreiteiligen Aquitanien-Krimireihe um den charmanten Kommissar Luc Verlaine (Hoffmann und Campe, jeweils 16 Euro), der sich gleichermaßen herumschlägt mit Austerndieben, Autopsien und Amouren.  Rund um das Château d’Orion und die Lebensgeschichte der Madame Labbé dreht sich auch der Roman „Ein Stern im Béarn“ (Edition  Ausblick) von Claudia Tebel-Nagy.

 

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