Zwölf Tage Berg

 

Eine Reportage von Alexandros Bikoulis

 

Die Schuhe kleben, als seien sie mit Pattex fixiert. Dieser leichte Glitzer am Boden, der an kostbare Mineralien im Erdreich erinnert und natürlich der betörende Geruch von transpiriertem Alkohol: alles Indizien für einen Zug in Richtung Erlangen. Die bereits im Zug dicht gedrängten Personen kommen schon beim Aussteigen ins Stocken – der Beförderungsalbtraum eines jeden Schaffners. Der Bahnsteig ist an seine Belastungsgrenze gekommen, sodass die Menschenmassen wie zähflüssiger Kleber langsam in die Innenstadt gedrückt werden. Das Aussteigen, das normalerweise zwei bis drei Minuten dauert, mutiert zu unsäglich langen zehn Minuten.

Erlangen-Bergkirchweih-Besucher-Hauptbahnhof
Ankunft der Bergbesucher am Erlanger Haupftbahnhof

Das Wetter beschert den Erlangern und seinen zahlreichen Besuchern am letzten Bergwochenende noch einmal einen wolkenfreien Himmel und die erstarkte Sonne sorgt auch um 20 Uhr für T-Shirt-Wetter. Auf dem „Berch“ – wie ihn die Einheimischen nennen – kann man an zwölf Tagen im Jahr die fünfte Jahreszeit Erlangens genießen: die Erlanger Bergkirchweih. Das Volksfest wurde zum ersten Mal im Jahre 1755 abgehalten und fand heuer zum 261. Mal statt. Ursprünglich zog der Pfingstmarkt auf den Burgberg um, damit die Schützen am Altstädter Schießhaus Vogelschießen betreiben konnten. Die dortigen Felsenkeller am „Berch“ wurden schnell zur beliebten Attraktion des neuen Jahrmarkts, da nur dort kühles Bier ausgeschenkt werden konnte. Jedes Jahr herrscht während dieser Zeit im Stadtgebiet Ausnahmezustand: Horden von Betrunkenen pilgern durch Erlangen auf den Burgberg, öffentliche Wiesen werden zu Vorglüharealen erklärt und Ladenbesitzer sichern ihre Fenster mit Holzplatten ab.

Die Zeiten ändern sich

„Am Berg ist quasi alles egal“, erzählt ein Busfahrer und hupt. Eine aufgescheuchte Gruppe euphorisierter Trachtenträger hüpft wie von der Tarantel gestochen von der Straße. Zwischen Hugenottenplatz, einer der Angelpunkte in der Erlanger Innenstadt, und dem Berggelände verkehren sogenannte Shuttlebusse, die den Kräfte zehrenden “Almauftrieb” in eine kleine Sightseeing-Tour durch Erlangen verwandeln. Vier bis fünf Mal die Stunde fährt so ein Bus im Shuttlebetrieb durch Erlangen, klebt drinnen danach meist ein bisschen mehr und riecht auch immer etwas strenger. Bei der Rückfahrt hängen Bierkrüge als Mitbringsel an Gürteln, Trinklieder werden angestimmt. „Dieses Jahr sind die Leute viel schlimmer betrunken als die Jahre zuvor. Die werfen sogar mit Flaschen nach meinem Bus!“, entgegnet der Busfahrer entrüstet.

Keller-Erlangen-Berkirchweih-Vesper
Ohne Zeitdruck kann man Vesper und Bier auf den Kellern genießen. Die Zäune werden spöttisch “Hasenkäfige” genannt.

Innerhalb Bayerns wird die Erlanger Bergkirchweih immer mehr und mehr zu einem Oktoberfestersatz, da es neben gutem Bier keine Restriktionen im Bierzelt oder auf den Kellern gibt: freies Feiern für alle – ohne Zeitdruck oder Verkostungszwang. „Die Erlanger werden immer mehr und mehr verdrängt“, gibt ein alteingesessener Besucher seine subtile Beobachtung wieder. Daneben hat sich der Berg auch optisch geändert: Gelbe Schallschutzwände grenzen Teile des Areals ein und viele Keller mussten eingezäunt werden, um Stürze zu verhindern. Vermehrt wird auch Sicherheitspersonal eingesetzt, dass an jedem Zugang zum Festgelände die Besucher auf Glasflaschen kontrolliert oder als „Pinkelstreife“ auf Wildpinkler jagt macht.

Laute Musik dröhnt schon jetzt, um zehn Uhr morgens, aus den Lautsprechern einer Bar im hinteren Bereich des Festgeländes. Unterbrochen werden die Schlagerschnulzen nur von den Schreien der Besucher eines Fahrgeschäfts, das direkt daneben seine grölenden Passagiere in 45 Meter Höhe schießt. Der Marktschreier einer Losbude preist lautstark über Lautsprecher mögliche Gewinne mit Limericks an und amüsiert das schaulustige Publikum. Direkt gegenüber wohnt Matthias. Während des Erlanger Ausnahmezustands bekommt er das Treiben unmittelbar aus nächster Nähe mit. „An sich ist der Berg schon was Tolles, er hat schon fast was von einem Klassentreffen. Aber es gibt eben auch die andere Seite der Medaille, wenn Schnapsleichen im Garten liegen oder dort sogar menschliche Machenschaften zurückbleiben. Das ist ein richtig asoziales Verhalten – meine Eltern haben mir so etwas nicht beigebracht. Aber irgendwo auch klar, wenn man sich mit sechs Maß zuschießt. Da geht halt nichts mehr auf der Baustelle.“ Auch die Schwabachanlage, ein kleiner Park nahe des Burgbergs mit Spielplatz und Zugang zu einem Fluss, wird während des Volksfests immer mehr als Vorglühpark mit Kühlmöglichkeit für Bier, Wein und Schnaps zweckentfremdet. Eltern und Kinder werden von Betrunkenen – oder solchen, die es noch werden wollen – verdrängt. Müll wird zurückgelassen, überall liegen Scherben.

Nutznießer: Flaschensammler

Nutznießer dieser Saufgelage an Spielplätzen oder in öffentlichen Parks sind die ca. 50 Flaschensammler in Erlangen. Einer von ihnen ist Horst, der sich strategisch günstig bei einem großen Platz positioniert hat und unter einem Baum auf einer Bank sitzt. Auf die Entfernung ist er nur anhand des Kontrastes der staubgrauen Haare zur braungegerbten Haut zu erkennen. „Das ist der Almauftrieb“, sagt er und grinst dabei, während er die Bierflasche langsam zum Mund führt. Gemeint sind natürlich die Studierenden, in deren Richtung er mit starrem, glasigem Blick schaut. Die in Lederhosen und Trachten gekleideten Studenten versuchen sich gegenseitig in einem Trinkspiel zu überbieten. Nach mehreren Runden hat sich das Spielfeld aufgelöst, die „Bier-Athleten“ hinterlassen ihre Sportutensilien und Horst müht seinen gedrungenen Körper in Richtung Pfand.

Ganz anders Kurt. Der hagere Mann Mitte fünfzig sammelt nicht aus der Not heraus, sondern als Hobby. Zu seinem adretten Erscheinungsbild gesellt sich seine Frau mit zwei Pfandflaschen. „Die Jungen besaufen sich ganz schön schlimm“, erzählt Kurt und schiebt dabei immer wieder seine Brille auf den Nasenhöcker. Er macht sich Sorgen, denn die Intensität der Saufgelage habe deutlich zugenommen. „Letztens gab es sogar welche, die haben einen leeren Kasten auf ein Auto geworfen.“ „Früher war das Sammeln einfacher und die Leute auch nicht so heftig betrunken“, betont er noch einmal, während ihn seine Frau drängt, sich ihrer Freizeitbeschäftigung weiter zu widmen.

“Afterberg”

Erlangen-Bergkirchweih-Martin-Luther-Platz-Menschenmassen
Die Menschenmassen stauen sich an Kreuzungen und Plätzen.

An den Kellern ist um 23 Uhr Zapfenstreich, die Musik stoppt und sogleich ergießt sich ein endloser Strom von Menschen sintflutartig in die Innenstadt – jeden Tag aufs Neue, zwölf Tage lang. An motorisierten Individualverkehr ist hier nicht mehr zu denken: Die Straßen, die einst die Bergpilger an die Keller gebracht haben, verwandeln sich samt Innenstadt zu einem großen Festplatz mit allerlei Büdchen und Aktivitäten an den Seiten. Bei vielen hängt noch die aufgeheizte Stimmung aus den Bierzelten und den Kellern im Kopf, so dass eine Vielzahl deutscher, aber auch internationaler Schlager lallend zu hören sind. Je näher man der Fußgängerzone kommt, desto mehr staut sich der „Almabtrieb“. An einem großen Platz bildet sich schließlich eine riesige Menschentraube. Ein Teil bewegt sich rhythmisch tanzend zu elektronischen Klängen aus einem kniehohen Lautsprecher, der mitten auf der Straße steht. Der andere Teil wartet rauchend außerhalb der „Afterberg“-Lokalitäten, die auch nach dem Zapfenstreich noch zu ausgelassener Stimmung, lauter Musik und reichlich Gerstensaft einladen. An so einem Abend, an dem keine einzige Wolke am Himmel zu sehen ist, wirkt der silbergrau leuchtende Vollmond wie eine überdimensionale Discokugel.

Inmitten dieser spontanen Party steht ein Streifenwagen. Der Polizist, ein durchtrainierter Mann Mitte 40 mit militärischer Kurzhaarfrisur, wird oft für Relegationsspiele oder Volksfeste angefordert. „Der 18. oder 20. Berg müsste das für mich sein, so genau weiß ich das nicht“, sagt er gelassen. Während er mit einer Ruhe eines Urlaubers erzählt, wie sie erst heute wieder drei Täter wegen gefährlicher Körperverletzung auf frischer Tat dingfest gemacht haben, beobachtet er die um ihn herum tanzende und grölende Menge. Er schüttelt den Kopf: „Der Respekt füreinander hat abgenommen. Mit Tritten gegen den Kopf, wenn einer am Boden liegt und sowas.“

Nachts hilft nur Sicherheitspersonal

McDonalds, 22.30 Uhr: Auch hier zeigt sich der zwölftägige verhängte Ausnahmezustand in seiner besten Form. Die Betrunkenen, die im Laufe des Abends deutlich ihren Blutalkohol nach oben korrigiert haben, möchten sich nun an einem scheinbaren Festbuffet laben und in den Molekülcocktail von Adipositas und Diabetes eintauchen. Viele sind selbst nach mehreren Burgern und Pommes immer noch nicht zu Kräften gekommen und liegen wie übrig gebliebene Festtagsdeko verteilt in der Burgerbraterei. Auch hier gibt es abends mittlerweile Sicherheitspersonal. Ein im Militarialook gekleideter Mann mit entsprechender Frisur und sein Kollege haben deutlich Mühe alle Belange ihrer „Kundschaft“ zu erfüllen. Sei es nun, weil Hipster sie zum Wecken von Schnapsleichen rufen oder weil Pöbler freundlich am Kragen gepackt nach draußen befördert werden müssen.

Scharzer-Ritter-Erlangen-Kneipe
Diese Kneipe öffnet, wenn andere schließen. Während des Bergs stärken sich hier viele für den Heimweg

Auch andere Bars haben mit den stark alkoholisierten Gästen zu kämpfen. Eine Art Dilemma entsteht, denn wie schafft man es, während der Bergzeit den Laden proppenvoll zu bekommen, ohne dabei sein Interieur in die Waagschale werfen zu müssen? Die einzige Option, so scheint es: mit Sicherheitspersonal, das während der Bergkirchweih zur Selbstverständlichkeit wird. Auch das ist für manche Bar ein Ausnahmezustand, denn bisher zogen sie diese Mengen an stark alkoholisierten Personen nicht an. Selbst Mike, dessen Laden er als „Wohnzimmer bei Freunden“ bewirbt, muss zwölf Tage im Jahr auf diese Maßnahme zurückgreifen: „Anders geht es nicht. Ausnahmezustand? Ja, definitiv! Für eine so ruhige Stadt wie Erlangen sind diese zwölf Tage extrem.“

Wenn dann die Wolken noch etwas von der Nacht lila eingefärbt sind und Vogelgezwitscher die ersten Sonnenstrahlen ankündigt, entfernt die Stadtreinigung den gröbsten Unrat der nächtlichen Stunden. Nur noch eine kleine Kneipe, mit einem Altersdurchschnitt jenseits der 50, lädt noch zu Bier und Currywurst ein. Das hier normalerweise verkehrende Klientel, erinnert an eine überspitzte Karikatur einer Rockerbande im Altersheim. Während der Bergkirchweih wird durch die etlichen neuen Besucher das Durchschnittsalter schon mal auf 30 gedrückt. Schließlich kann man sich hier nochmal mit Bier und Currywurst vor dem Heimweg stärken, bis die ersten Züge wieder fahren und die Bergbesucher des Vortages mitnehmen können. So wie jedes mal zur Bergzeit. Einmal im Jahr, zwölf Tage lang.

Mehr Informationen:

Offizielle Informationen zum Berg

Offizielle Internetpräsenz der Stadt Erlangen

 

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vig

 

 

 

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