„Wo mein Herz ist, ist mein Zuhause“

Wohnprojekt wagnisART bietet alternativen Lebensmodellen eine neue Heimat

 

Eine Reportage von JP

 

10.30 Uhr, München, Schwabing Nord. Rund 40 Interessenten warten vor der Baustelle. In wenigen Minuten beginnt die Führung. Eine energisch wirkende Frau mit kurzen grauen Haaren läuft strammen Schrittes auf die bunt gemischte Gruppe zu. Es sind Mütter und Väter mit wenige Tage alten Babys auf den Armen, Rentner, zwei junge Flüchtlinge aus Eritrea. Sie wollen sich die Wohnungs-Cluster, moderne WGs mit Gemeinschaftsraum, die symbolisch für das Konzept des alternativen Wohnprojekts wagnisART stehen, anschauen. „Cluster“, so ein junger Vater im gelben Pullover, „das hört sich irgendwie nach Kopfschmerz an“. Leises Gelächter in der Gruppe. Doch schon steht Elisabeth Hollerbach, die Frau mit den kurzen grauen Haaren vor der Gruppe. Das Gemurmel verstummt.

Elisabeth Hollerbach ist die treibende Kraft hinter allen Wagnis-Projekten. Die wagnis eG, eine Baugenossenschaft für alternatives Wohnen, ist Projektträger der Wohnungscluster. „Wagnis steht nicht nur für sich etwas Riskantes trauen“, begrüßt Hollerbach die Interessenten, es ist auch die Abkürzung für „Wohnen und Arbeiten in Gemeinschaft, nachbarschaftlich, innovativ und selbstbestimmt.“

Die Truppe beginnt die Führung in der Tiefgarage, da noch viele Bauzäune das Gelände durchziehen. „Als Bewohner der Genossenschaft ist man hier Mieter und Eigentümer zugleich, man hat ein lebenslanges Wohnrecht und die Mieten bleiben stabil“, wirbt Hollerbach. Dafür muss man einen Genossenschaftsanteil kaufen, zum Beispiel für eine 100 Quadratmeter-Wohnung wären dies rund 100.000 Euro. Einige in der Gruppe schlucken, doch Hollerbach fährt fort. „Die Genossenschaftseinlage ist nicht verloren, sondern bleibt Eigentum der Bewohner und wird Ihnen bei einem eventuellen Auszug zurückgezahlt.“

Der junge Vater im gelben Pullover strahlt seine dunkelhaarige Partnerin an. „Und die Miete?“, fragt die junge Frau und greift nach der Hand ihres dreijährigen Sprosses. „Die Miete liegt knapp unter dem Durchschnitt Münchens“, nickt Hollerbach dem Pärchen zu. Mit dem Geld der Anteile finanziert die Genossenschaft die Gemeinschaftseinrichtungen. „Und dabei dürfen alle bei der Gestaltung der Anlage mitreden.“ Außerdem fielen die Hausmeisterkosten gering aus, denn die Bewohner legen selbst Hand an, beispielsweise beim Schneeschippen. Energiekosten würden durch Passivhausbauweise gedrückt.

Gemeinschaftsbadewannen im Keller

Der Gemeinschaftsgedanke ist eine klare Absage an die Single-Hauptstadt München. „Hier gibt es gemeinschaftlich genutzte Dachterrassen, Ateliers, Proberäume, Werkstätten, eine gemeinsame Waschküche, sogar zwei große Badewannen, die gemeinschaftlich genutzt werden können“, schmunzelt Hollerbach, während sie die Gruppe auf den sogenannten Dorfplatz führt.

Badewannen wagnisART
Gemeinschaftsbadewannen im Keller

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„Ein wenig grüner hab ich mir das schon vorgestellt“, murmelt die junge dunkelhaarige Mutter. Tatsächlich dominieren weiß gestrichene Beton-Fassaden. Und: Brücken. Diese wurden von den Bewohnern „Skywalks“ getauft. Die Brücken verbinden alle Häuser miteinander, sollen spontane Begegnungen ermöglichen und nachbarschaftliche Beziehungen stärken.

Brücken wagnisART
„Skywalk“, eine der fünf Brücken

„Wow“, geht ein Raunen durch die Interessentengruppe. Elisabeth Hollerbach spürt, wie die Begeisterung über diese besondere Architektur die Tristesse des Geländes überstrahlt. Die Gruppe ist ihren Gedanken gefolgt und scheint zwischen den vereinzelt stehenden Apfelbäumchen, den grünen Rollrasen zu sehen, „der leider erst morgen geliefert wird.“ „Auf nach Afrika!“, ruft Hollerbach schwungvoll und reißt die Besuchergruppe aus ihren Träumen.

Ausblick von einer noch unbegrünten Dachterrasse Richtung Süden, in der Ferne: die Alpen
Ausblick von einer noch unbegrünten Dachterrasse.
Blick Richtung Süden wagnisART
In der Ferne: die Alpen.

Das Haus Afrika ist einer der fünf Wohnblöcke, die alle nach einem Kontinent benannt sind. Zügigen Schrittes geht es vorbei an Arztpraxen, die sich der alternativen Gesundheitsversorgung verschrieben haben. Ob Anthroposophische Heilkunde, Antlitzdiagnose oder Aromatherapie – ein Eldorado für Schulmediziner ist hier nicht geplant.

Die Anordnung der Briefkästen und Fenster…
Briefkästen und Fensterfront wagnisART
…fällt ein bisschen aus dem Rahmen.

Deshalb hat sich auch Wolfgang hier eine neue Heimat gesucht. Der 64-jährige war Physiker am Klinikum Großhadern, ist jetzt in Rente. „Ich habe schon reichlich WG-Erfahrung in meinem Leben gesammelt“, begründet er seine Entscheidung vor einem Monat in einen Cluster gezogen zu sein. Hollerbach hat den Rentner ausgewählt, um den Interessenten zu zeigen, wie die WG-Apartments von innen aussehen. „Upps, da habe ich meine Mitbewohnerinnen wohl nicht richtig informiert“, lacht der Ex-Physiker.

Drei Damen in Schlafanzügen

Drei reifere Damen sitzen in Schlafanzügen noch am Frühstückstisch und schauen verdutzt, als plötzlich 40 Fremde in ihrer Gemeinschaftsküche stehen. Nach einer Schrecksekunde lachen die Drei herzlich. „Kommt nur alle herein“, rufen sie, „da seht ihr gleich mal, wie´s in so ´ner WG in echt aussieht.“ Es gibt Cluster, in denen Menschen im Alter von 16 bis 70 Jahren wohnen, Singles zusammen mit Kleinfamilien, in einem Cluster wohnen ausschließlich Künstler. Wolfgang erklärt: „Ich fühle mich hier sehr wohl, aber ich weiß auch noch nicht, ob alles funktionieren wird mit dieser Mischung aus WG und den eigenen vier Wänden.“ Und er fügt hinzu, dass dieses Projekt schließlich nicht umsonst „Wagnis“ hieße.

Vor 16 Jahren begann das wohnbauliche Wagnis mit der Gründung der Genossenschaft. Mittlerweile hat die eG 1.250 Mitglieder, fünf Wagnis-„Dörfer“ gibt es in München. Für Kinder sei es in dieser Wagnis-Siedlung wie im Paradies, schwärmt Elisabeth Hollerbach den inzwischen interessiert schauenden Eltern vor. „Es gibt genügend Spielkameraden, es sind Räume zum Rumtoben vorhanden, der Spielplatz ist bald fertiggestellt, ebenso der Kindergarten nebenan.“ Ex-Physiker Wolfgang wirft ein, dass Jugendliche die fehlende Infrastruktur bezüglich altersgerechter Abendgestaltung bemängeln. Dem könne er sich anschließen, Bars seien weder auf dem Gelände noch in unmittelbarer Nähe vorhanden. „Trotzdem kommt hier jeder schnell mit den Bewohnern in Kontakt“, erzählt Elisabeth Hollerbach beim Verlassen von Wolfgangs WG.

Tom vor Tafel mit Schriftzug "home is where the heart is"
Tom, 47 Jahre, Grafikdesigner

Freundlich öffnet auch Tom sein Zuhause. „Komm einfach rein, ich zeig Dir meine Wohnung“, so der 47-jährige stolz. Für den Grafikdesigner ist es etwas Besonderes hier zu leben – in Zeiten von Mietpreisexplosion, Umweltverschmutzung und Vereinzelung.

Toms Wohnung besticht durch rechtwinklige Räume. Eine Ausnahme, wurde doch in den Cluster-WGs oder den klassischen Wohnungen von wagnisART konsequent auf Bauen im 90-Grad-Winkel verzichtet. „Mich hat das Konzept überzeugt“, sagt Tom, der seit zwei Monaten hier lebt, da er aus seiner Wohnung in München-Giesing heraus musste. „Meine Bleibe wurde nach einer Luxussanierung, unbezahlbar.“ Zwar seien seine Eltern anfangs schockiert gewesen, da sie weltfremde Ökospinner oder eine Sekte hinter dem Projekt vermuteten. Nach einer Besichtigung vor Ort revidierten sie jedoch ihre Vorurteile.

„Ich habe meine Heimat gefunden“

Wenn Tom über sein neues Zuhause spricht, glänzen seine Augen: „Ich fühl mich sauwohl hier, bin angekommen, habe eine Heimat für meine Frau und meine Tochter gefunden. Anderswo zu leben ist für mich mittlerweile unvorstellbar.“ Sein Blick fällt von seinem Balkon auf ein Meer aus Plastikplanen. Er gehe das Risiko ein. Auch wenn es vielleicht noch zwei bis drei Jahre dauert, „bis sich hier alles eingegroovt hat.“ „Ich spüre jeden Tag auf´s Neue die positive Energie, die von unserem Dorf und den Bewohnern ausgeht“, so der Grafikdesigner und zeigt auf eine Tafel im Wohnzimmer. Darauf hat seine 16-jährige Tochter ein klares Bekenntnis geschrieben: „Home is, where the heart is.“

Säcke wagnisART
Pflanzsäcke für die Dorfbegrünung: Bei der Wohnungssuche in München braucht´s Glück.

Der junge Vater im gelben Pullover legt den Arm um seine dunkelhaarige Freundin, als wolle er seine Euphorie auf sie übertragen. Zufrieden sieht Elisabeth Hollerbach wie Begeisterung ihre Gruppe erfüllt. Diese muss die agile Fast-Rentnerin dämpfen. „Für die wenigen freien Apartments in den Cluster-WGs gibt es schon viele Reservierungen.“ Diejenigen, die der heutige Termin überzeugt habe – und dies scheinen die meisten zu sein – bräuchten Geduld. Die Baugenossen errichten derzeit zwei weitere Wohnkomplexe und haben noch drei „Dörfer in der Stadt“ in Planung.

Infos zum wagnisART-Projekt: http://www.wagnis.org/wagnis/wohnprojekte/wagnisART.html

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