Spionage in der Werkstatt Natur

Bionik dient immer mehr Automobil-Herstellern als Konstruktionsbeispiel


Ein Bericht von Sandra Seifert


Bei der Landung spreizen Katzen ihre Pfoten für eine optimale Kraftübertragung − ein Vorbild für die Hersteller von Premium-Reifen. Ameisen sind Meister der Orientierung und die Aerodynamik des Kofferfisches ist fünfmal besser als die vom Porsche 911.

Bionik bedeutet Lernen von der Natur − also die Verknüpfung von Biologie und Technik. Aber die Bestrebung des Menschen sich von der Natur inspirieren zu lassen, ist nicht neu: Bereits in der griechischen Mythologie wird der Versuch unternommen, wie ein Vogel zu fliegen: Daidalos und sein Sohn Ikaros wollten aus der Gefangenschaft entkommen und bastelten sich Flügel nach dem Vorbild der Vögel. Auch Leonardo da Vinci studierte den Flug des Vogels und konstruierte Fluggeräte, Hubschrauber und Fallschirme. Er gilt als der Begründer der Bionik und hat sich als Erster wissenschaftlich mit dem Prinzip des Leichtbaus beschäftigt. In der Automobilindustrie gilt Leichtbau seit mehr als zehn Jahren als neue Schlüsseltechnologie.

Leichtbau nach dem Plankton-Prinzip

Sie sind so winzig, dass man ein Mikroskop benötigt: Einzellige Strahlentierchen und Kieselalgen bevölkern in riesigen Mengen die lichtdurchfluteten Schichten unserer Ozeane, Seen und Flüsse. Ihre kunstvolle Gestalt mit den symmetrisch angeordneten Öffnungen ähnelt Großmutters Spitzendeckchen oder utopischen Strahlenkonstruktionen. Doch die Gehäuse der Einzeller sind nicht nur schön: Auch wenn die filigranen Schalen zerbrechlich wirken, sind sie doch perfekte ökonomische Konstruktionen. „Und genau das macht sie für die Automobilindustrie interessant. Mit einem Minimum an Materialeinsatz erreichen die kleinen Kraftprotze ein Maximum an Stabilität“, meint Dr. Christian Hamm, Abteilungsleiter Bionischer Leichtbau beim Institut für Marine Ressourcen in Bremerhaven. Mit dem Rasterelektronenmikroskop hat er die Schalen von Kieselalgen untersucht und fotografiert. Die Evolution soll dabei die technische Revolution vorantreiben. „Die Nutzung von biologischen Strukturen, die bereits durch die Natur optimiert wurden, führt unter Umständen zu anderen und besseren Ergebnissen als der Versuch, solche Formen am Computer zu konstruieren", sagt der Wissenschaftler.

Konterpunkt zum Schlankheitswahn

Mutig trägt der gelbbraune Kofferfisch seine kompakte eckige Gestalt zur Schau und taucht bis in Tiefen von 35 Metern ab. Dem dort herrschenden Wasserdruck hält er durch seinen stabilen aber leichten Knochenpanzer stand. Denn, obwohl augenscheinlich plump, hat er einen besonders niedrigen Strömungswiderstand (cw-Wert) von 0,06. So niedrig, dass er sogar den windschnittigen Porsche hinter sich lässt. Die Erfolgsformel lautet:

kleiner cw-Wert = wenig Widerstand = geringer Verbrauch

Daraufhin bauten die Entwickler von Mercedes-Benz ein Modell im Maßstab 1 : 4, das der Grundform des Fisches entsprach und erreichten einen in der Automobiltechnik einzigartigen cw-Wert von 0,095. Und auch der funktionstüchtige, fahrbereite Prototyp eines Kompaktwagens, von den Stuttgarter Autobauern treffend „bionic car“ genannt, war mit einem cw-Wert von 0,19 immer noch extrem windschnittig. Die Ingenieure schauten sich aber nicht nur die Form, sondern auch das Bauprinzip vom Kofferfisch ab. Dessen Haut besteht nämlich aus sechseckigen Knochenplättchen, die so gewachsen sind, dass sie bei geringstem Gewicht ein Höchstmaß an Festigkeit bieten. Und nach diesem Prinzip, also Material nur dort einzusetzen, wo es notwendig und sinnvoll ist, konstruierten die Entwicklungsingenieure auch das Gerüst des Prototyps. Mit dem Ergebnis, dass die Karosserie bei gleichbleibender Stabilität, Steifigkeit und Crash-Sicherheit etwa ein Drittel weniger Gewicht auf die Waage bringt - ein Meilenstein in der Leichtbautechnik. Prof. Dr. Thomas Weber, Vorstandsmitglied der Daimler AG und verantwortlich für Konzernforschung und Entwicklung, räumte ein: „Wir waren offen gestanden überrascht, dass ausgerechnet dieser plump wirkende Fisch als Vorbild diente, um ein strömungs- und verbrauchsgünstiges Fahrzeug zu entwerfen.“

Erstaunlich − das Prinzip der Katzenpfote

Um die Kraftverteilung des Reifens auf der Fahrbahn zu optimieren, haben sich die Entwicklungsingenieure von Continental am Beispiel der Katzenpfote orientiert. Eine Katze steht mit minimalen 0,6 bar auf dem Boden, wohingegen der Druck eines Sommerreifens im Bereich von 2,3 bar liegt. Damit erreicht sie Bremswege und Haftwerte, von denen Reifenhersteller nur träumen können. So ist es kein Wunder, dass die Katzenpfote beim Sommerreifen „ContiPremiumContact“ Pate stand: Von den kleinen Jägern muss die körpereigene Energie beim Sprint optimal genutzt werden. Außerdem dürfen Hakenschläge und Wendemanöver nicht unnötig Zeit durch zu lange Bremswege kosten. Deshalb spreizen sie beim Bremsen ihre Zehen, so dass es zu einer größeren Kraftübertragung auf den Untergrund kommt. Für den Reifen heißt das im übertragenen Sinne: schmale Konturen im Fahrmodus, aber breite beim Bremsvorgang. In den vergangenen 20 Jahren haben Hersteller wie Continental enorme finanzielle Mittel in die Forschung und Entwicklung von Hunderten von neuen Reifen-Modellen investiert. „Der Anreiz ist, immer wieder Ideen zu haben, die das Produkt noch besser machen, obwohl es schon hundert Jahre alt ist“, erklärt Conti-Chefentwickler Christian Koetz. Und er sieht noch große Möglichkeiten, was bionische Profile und Materialeinsatz anbelangt, denn: „Dank neuer Materialien und optimierter Simulationstechniken sind die technologischen Fortschritte immer größer geworden, die Lebenszyklen der Produkte dagegen immer kürzer.“

Die Bionik dient immer mehr Automobil-Herstellern und Zulieferern als Konstruktionsvorbild. Unternehmen, die langfristig erfolgreich sein wollen, müssen den Mobilitätswandel aktiv mitgestalten. Sie müssen Megatrends aufspüren und die Chancen neuer Technologien nutzen. Für die Forscher lohnt sich daher die Spionage in der Natur, denn die in zwei Milliarden von Jahren der Evolution gefundenen und optimierten Strategien der Natur sind oftmals die perfekte Lösung technischer Probleme.

„Die Katze ist das Meisterstück der Natur.“

Leonardo da Vinci, Universalgenie und Begründer der Bionik