Alle Schrauben der Welt

Wenn man eine Schraube braucht, liegt hier das Schlaraffenland: Bei Schrauben Preisinger in München hat man die Wahl zwischen 30.000 Sorten. Man bekommt keine Großpackung aufs Auge gedrückt, sondern genauso viele, wie man braucht. Wer will, kriegt seine Schraube sogar einzeln – und wird dafür nicht schief angeschaut.

Überall sind sie: im Keller, in der Küche, im Schlafzimmer. Im Wecker auf dem Nachttisch, in der Kaffeemaschine, im Laptop, im Auto und im U-Bahn-Waggon. Trotzdem sehen wir sie nicht. Erst wenn plötzlich eine weg ist, merken wir, dass überhaupt eine da war. Wann immer eine Schraube verloren gegangen ist  – oder neu eingebaut werden muss: das ist schnell ein Fall für Schrauben Preisinger – einen Laden aus München, den es so in Deutschland wahrscheinlich nur einmal gibt. Hier gibt es keine Schraube, die es nicht gibt. Und der Kunde bekommt keine Großpackung aufs Auge gedrückt. Er kauft nur so viele Schrauben, wie er tatsächlich will und braucht – und sei es eine einzige.

Geschäftsführer Patrik Lange (alle Fotos: Adalbert Zehnder)

30.000 verschiedene Sorten an Schrauben, Beschlägen, Haken, Bohrern, Dübeln lagern in dem seit bald 100 Jahren bestehenden Ladengeschäft in der Innenstadt von München, gleich hinterm Viktualienmarkt. Patrik Lange, 47, Urenkel von Firmengründer Heinrich Preisinger und heutiger Geschäftsführer des Familienbetriebs, wirft einen Blick in seinen Computer. Stand von heute Nachmittag, 14.12 Uhr: 20.357.744 Einzelstücke. Ein Mensch, der mit einer Geschwindigkeit von einem Stück pro Sekunde zählte, bräuchte 235 Tage und Nächte – zwei Drittel eines Jahres – um bei Schrauben Preisinger von Hand Inventur zu machen.

In der Handtasche, im Raumschiff

Einzeln gibt es die Schraube für die feine Dame, an deren Gucci-Handtasche ein Henkel abgegangen ist; und kistenweise für Unternehmen, die alle möglichen Maschinen entwickeln und bauen wie Autos, Filmleuchten, medizinische Geräte – oder Kameras für Satelliten. „Wir beliefern auch die Raumfahrtindustrie“, erzählt Lange. „Ich will gar nicht wissen, wie viele Schrauben von uns oben im Weltraum ihre Runden drehen.“

Der Laden ist ein Mikrokosmos, eine Parallelwelt, ein Mysterium. Zwei separate Ladenlokale links und rechts einer repräsentativen Toreinfahrt, durch die, als das Haus um 1850 gebaut wurde, noch Pferdekutschen fuhren. Die Remise hinterm Haus, einst Pferdestall, verbindet heute beide Läden über den Hinterhof. Wo früher die Pferde standen, wickelt Preisinger heute den Versand en gros ab. Es ist der jüngste Teil der Firma. An den Räumen, die von Generation zu Generation dazukamen, lässt sich das Wachstum von Schrauben Preisinger schon physisch ablesen – ein Labyrinth ist das. Verwinkelte Gänge mit meterhohe Regalen, darin endlose Reihen kleiner, grauer Kartons und bunter Kunststoffkästchen, im Fachjargon „Schütten“ genannt: an der Vorderseite halb offen, damit man schnell hineingreifen oder den Inhalt kontrolliert herausschütten kann.

Linsenköpfe, Muttern, Vollnieten

Mitarbeiter Thomas Viermann im labyrinthischen Schraubenlager

Rote Schütten, gelbe Schütten, grüne, blaue, graue. In ihnen drin liegen schwarze, silberne, goldene Schrauben. Das Material: Stahl blank und verzinkt, Edelstahl, auch zinklamellenbeschichtet, Messing blank, vernickelt, verchromt. Kunststoffschrauben aus Polyamid. Metrische, Blech- und Holzgewinde. Aufliegende Schraubenköpfe, Schrauben mit Linsenkopf, die halb – und Schrauben mit Senkkopf, die komplett im Material verschwinden. Muttern blank und Muttern mit Stoppergummi im Innengewinde. Blind-, Hohl- und Vollnieten. Flügelschrauben. Und: Madenschrauben. Das sind kurze Gewindestangen ohne Kopf mit Innensechskant, die ihren Namen tatsächlich aus der Natur haben, weil sie die Erfinder an Insektenlarven erinnerten, an Fliegenmaden.

„An meinem ersten Tag hier, als ich mit dem Kollegen hier durchging, dachte ich mir: Das schaffe ich nicht, das lerne ich nie“, erzählt Thomas Viermann, 45, gelernter Einzelhandelskaufmann. Deshalb verübelt er es keinem Außenstehenden, wenn er das Lagersystem „eigentlich als Durcheinander“ wahrnimmt. Geschäftsführer Lange spricht von einem „gewachsenen Lagersystem“: „Deshalb ist es auch nicht so einfach, sich sofort hier auszukennen. Bis Sie richtig fit sind, brauchen Sie ein halbes bis Dreivierteljahr.“

Zählen mit der Waage

Thomas Viermann ist fit – seit 20 Jahren ist er inzwischen bei Preisinger. In kaum zehn Sekunden 100 Schrauben abzählen? Kein Mensch kann das – Thomas Viermann kann es schon. Er bedient sich eines technischen Tricks, der banal wirkt – aber den man halt auch kennen muss. Viermann greift mit seiner Hand in eine Schütte mit Edelstahlschrauben. Es rauscht metallisch. Klackernd lässt er sie in eine schwarze Gummiwanne fallen, die auf einer flachen Tischwaage steht. Bei zehn ist Schluss. Er drückt einen Knopf, die Waage teilt das Gewicht durch zehn und kennt jetzt das ideale durchschnittliche Einzelgewicht. Ab diesem Moment kann Viermann mit vollen Händen Schrauben nachschütten: Fehlerfrei wird die Maschine zählen und schnell. Sie zählt, indem sie laufend wiegt und durch das Gewicht einer Einzelschraube dividiert. Die grünen Digital-Leuchtziffern auf dem Display der Waage wuseln in die Höhe: 96, 97, dann noch dreimal klack, klack, klack –  98, 99 …  100!

„Wir können das machen, weil wir klein sind.“

100 auf einen Streich: die elektronische Schraubenwaage.

„Diese Edelstahlschraube DIN neun-zwölf/vier-mal-dreißig zum Beispiel kriegt der Kunde nirgendwo 100-Stück-weise“, sagt Viermann. Im konventionellen Großhandel müsse man in der Regel 1.000er-Großpackungen abnehmen. „Deswegen kaufen die Kunden bei uns“, sagt Viermann. „Weil wir solche Sonderwünsche erfüllen. Bei uns können Sie 340 von diesen Schrauben bestellen oder 270 von denen da.“ Manche Kunden wollten ihre Schrauben in 100er-Päckchen. Andere wollen 100 Schrauben in zwei Päckchen zu 50 oder in fünf Päckchen zu 20 Stück. Egal: Viermann wirft dann wie immer seine Waage an, wiegt die Schrauben, bis alles stimmt und steckt sie in transparente Plastiktütchen. Zip-Verschluss zu. Aufkleber drauf, auf dem die Schraubenmaßen zu finden sind sowie Firmenlogo und Kontaktdaten von Schrauben Preisinger. Und dann ab in den Postversand – oder nach vorne, zum Kunden in den Laden. „Wie der Kunde es wünscht“, sagt Viermann. „Wir können das machen, weil wir klein sind. Und selbst wenn der Kunde eine einzige Schraube in einer Tüte haben will – dann kriegt er das auch.“

Bei Schrauben Preisinger einzukaufen hat seinen Preis. Und doch: „Was nützt es dem Kunden, wenn er 1.000 Stück abnehmen muss und vor die Wahl gestellt wird, den überschüssigen Rest teuer zu lagern oder wegzuschmeißen?“, fragt Thomas Viermann. „Dann sind wir unterm Strich eben doch günstiger, obwohl wir pro Schraube teurer sind. Und die Kunden wissen das natürlich und beginnen das auch wieder stärker zu schätzen.“

Wenn die Kuckucksuhr kaputt ist

Die kleinste Schraube bei Preisinger, die einer seiner Mitarbeiter mit viel Fingerspitzengefühl auf den Verkaufstresen legt, sieht von weitem überhaupt nicht nach Schraube aus – wie ein kleiner schwarzer Fleck, eine Baby-Zecke vielleicht, die sich noch nicht damit begonnen hat, sich mit Blut vollzusaugen. Ein Millimeter Länge, ein Millimeter Gewindedurchmesser. Sieht man sehr genau hin, erahnt man obendrauf einen Senkkopf mit Schlitz. „Mit der kann man zum Beispiel eine Brillenfassung reparieren“, sagt Lange, „oder eine kleine Kuckucksuhr.“

DIE KLEINSTE UND DIE GRÖSSTE: Die schwarze 1-Millimeter-Schraube (linkes Bild, vorne) eignet sich dafür, eine Brille oder eine Kuckucksuhr zu reparieren. Die große Schraube rechts im Schaufenster (zehn Zentimeter dick und fast 80 Zentimeter lang) eignet sich für eine Kraftwerksturbine oder für den Schiffbau.

Mit der größten Schraube, die Schrauben Preisinger vorrätig hat, könnte man locker einen Menschen erschlagen – doch man müsste dafür selbst ein Riese sein, um sie überhaupt in der Hand halten und damit hantieren zu können. „80 Kilogramm“, sagt Patrik Lange und zeigt auf eine silbern glänzende Gewindeschraube mit Sechskantkopf, die ganz rechts in seinem Schaufenster liegt: neun Zentimeter dick und fast so lang wie ein Menschenbein. „Die könnte man im Großmaschinenbereich hernehmen: wenn Sie eine Turbine für ein Kraftwerk bauen. Oder für ein Containerschiff.“

Duft von Maschinenöl und Schwefel

Diese kleinste Schraube ist zugleich der Urtyp der Schraube überhaupt. „Die klassische Schraube ist schwarz“, sagt Patrik Lange. „Blanker Stahl, keine Oberflächenbeschichtung, gar nichts. Sie wird bloß am Ende dann eingeölt, damit sie nicht schon in der Schachtel anfängt zu rosten.“ Nimmt man schwarze Schrauben wie diese in die Hand, riechen die Finger nach Eisen, Schwefel und Maschinenöl. Die einzige Schraube ist es, die riecht.

Bayerns ältestes Fachgeschäft

Auf den Quittungsblöcken aus Durchschlagpapier, die im Laden auf den Kassentischen liegen und auf denen die Mitarbeiter auch im Computerzeitalter noch die einzelnen Geschäftstransaktionen per Hand dokumentieren, der Einfachheit halber, steht in rundlicher, roter Schrift „Schrauben Preisinger“. Und gleich darunter als Untertitel: „Bayerns ältestes Fachgeschäft“. Gegründet wurde die Firma 1921 – ein Krisenjahr. Die Reparationsverpflichtungen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg führen in Deutschland zu einer nie dagewesenen Inflation. Der Wert der Mark erodiert von Tag zu Tag. Nur ein Tausendstel ihres Werts von vor dem Krieg besitzt sie noch. Heinrich Preisinger, der aus Verzweiflung einen Job auf einem Schiff angenommen hat, das zwischen Europa und Amerika im Atlantik Telefonkabel  verlegt, stößt bei seinen Reisen auf etwas, was es in München zu diesem Zeitpunkt nicht gibt: ein Schraubengeschäft.

Firmenpatriarch im Herrgottswinkel

Firmengründer Heinrich Preisinger

Betritt man die ersten Stufen im schmalen Treppenhaus, das hinaufführt zu Patrik Langes Geschäftsführerbüro im ersten Stock, kann man dem Firmengründer Hermann Preisinger noch heute persönlich begegnen. Aus herrgottswinkelhafter Höhe sieht einen der Firmenpatriarch von einem eingerahmten Schwarzweiß-Foto aus an. Streng, ein bisschen wild blickende helle Augen, Stirnglatze. Ein wuchtiger Mann im hellgrauen Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd, aus dessen Kragen eine üppig gebundene gestreifte Stoffschleife quillt. Unterhalb des Porträts: zwei viereckige Gitter aus Schmiedeeisen. Zwischen schwarzen Schnörkeln zwei goldene Initialen H und P. Die Gitter sind Zaunfragmente von Heinrich Preisingers im Zweiten Weltkrieg zerbombten Grab auf dem Münchner Ostfriedhof. Seine Nachfahren haben sie gerettet und in einer Art vertikalem Altar in der Firma arrangiert.

Noch an einer anderen Stelle, auf der linken Seite des Ladenlokals, dessen Grundmauern aus der Zeit um 1850 stammen und dessen Deckenhöhe leicht die Vier-Meter-Marke übersteigt, kann man in die goldenen Zwanzigern des H.P. bis heute eintauchen. Hier liegt ein besonders kurioser Teil dieses nie konzipierten, sondern über Jahrzehnte organisch entstandenen Lagersystems: Hinter dem Verkaufstresen erheben sich Wände aus rotbraun gestrichenen Holzregalen. Selbst gezimmert wirken sie. Die Farbe ist original. Unter abgewetzten Kanten und ein paar Macken zeigt sich gelblich Holz von 1936, als Preisinger mit seinem Laden von der benachbarten Reichenbachstraße in die Utzschneiderstraße 7 zog. Damals, vor dem Krieg, produzierte Preisinger noch selbst. In seinem Werk im Stadtteil Giesing wurden Schrauben noch gedreht, also aus eingespannten Rohlingen herausgefräst. Heute werden sie dagegen gepresst. Während des Kriegs stellte Preisinger dann statt Schrauben Gewehrläufe für Hitlers Wehrmacht her.

Goldnuggets im Schnapsglas

„Glas-Phiolen“ in den Holzregalen von 1936

In den nur wenige Zentimetern tiefen Fächern stehen runde Glasröhrchen im Schnapsglasformat. Drinnen: golden funkelndes Granulat. Sieht man näher hin, erkennt man aus Messing gefertigte Holzschräubchen. Kleine orange und grüne Papierschildchen, von Hand und nach Augenmaß herumgeklebt mit Manschetten aus Tesafilm, bezeichnen deren Stärke und Länge, 3×12, 3×16, 3×18. Die Schnapsgläser – im Fachjargon Glas-Phiolen genannt – nehmen nicht viel Platz weg und machen es möglich, viele Schrauben auf wenig Raum vorrätig zu halten. Bei Bedarf ein paar Schrauben auskippen – das geht schnell und sei praktischer als alles andere, sagt Lange.

Warum gibt es so viele Schrauben?

Raum für Schrauben – der wird im Preisinger-Laden immer knapper. „Vor 40 Jahren hatten wir 2.000 bis 3.000 Produkte im Lager, mehr nicht“, sagt Patrik Lange. Es gab  Stahl- und Messingschrauben, Edelstahlschrauben waren rar und teuer und galten als exotisch. Mittlerweile seien sie ein Massenprodukt und gängig. Die Zylinderkopfschraube mit Innensechskant, die Thomas Viermann vorhin abfüllte, ist der Verkaufsschlager bei Preisinger. Zu den DIN-Schrauben kamen die ISO-Normierungen hinzu. Dann ein Boom der Kunststoffschrauben. In Zeiten der Globalisierung mit einer nie dagewesenen Vielfalt an Maschinen und Geräten hat sich dieser Trend noch einmal beschleunigt. „Unser Sortiment wächst eigentlich täglich – um Sonderteile oder um ein Standardteil, das bisher nicht geläufig war“, resümiert der Geschäftsführer. „Jedes Jahr erweitern wir unser Produktspektrum um 500 bis 600 Teile. Wir leben davon, dass München dieser Hightech-Standort ist“, dass Technikfirmen in großem Stil Schrauben per E-Mail ordern und auf dem Versandweg erhalten.

EINE Schraube kaufen? Keiner wird schief angeschaut

Der Laden – der Ort, wo es Schrauben auch einzeln gibt.

Der Schraubenladen ist für Lange aber noch immer die „Keimzelle“ der Firma. „Weil ich immer sagen kann: Du brauchst eine Schraube? Dann komm‘ vorbei und hol‘ sie dir. Der Handwerker, die Hausfrau, der Hobbybastler – alle kommen zu uns, weil es bei uns ein Sortiment gibt, das es in keinem Baumarkt gibt – plus die persönliche  Beratung. Das ist das Geheimnis unseres Ladens.“ Eben hat ein Kunde mit Fliegerbrille und Parka den Laden verlassen, wieder mal. Der Industriedesigner, dessen Büro nur wenige Fahrradminuten entfernt liegt, braucht  öfter Metallenes und er braucht es kurzfristig, damit er arbeiten kann. Heute sind es mit hoher Präzision gearbeitete Passscheiben – für den Prototypen eines Transportfahrrads, das er gerade in seinem Atelier entwickelt.

Weil bei Schrauben Preisinger in einer ganz besonderen Art und Weise die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, trifft er im Zeitalter von Natursupermärkten, veganer Kost und Nachhaltigkeit erneut den Nerv der Zeit. Dank des so traditionellen wie zeitlosen Geschäftsmodells kann man hier bis heute genauso viele Schrauben kaufen, wie man braucht – und ohne schief angeschaut zu werden. Bayerns ältestes Fachgeschäft wurde deshalb erst kürzlich in den ersten alternativen Stadtführer für die bayerische Landeshauptstadt als Shopping-Tipp aufgenommen. „Bio“ ist Schrauben Preisinger zwar nicht. „Aber diese Klasse von Einzelhandel verhindert Verschwendung“, sagt Stadtführer-Herausgeber Florian Sperk. „Dass der Kunde hier ressourcenbewusst einkaufen kann, hat unmittelbar eine ökologische Auswirkung.“

Als Heinrich Preisinger sein Schraubengeschäft aufmachte, dachte er daran sicher nicht – und dennoch scheint sich seine Weitsicht ein weiteres Mal zu bestätigen. „In der Krise der 1920er-Jahre fand er das eine gute Idee, einen Schraubenladen zu eröffnen“, erzählt Geschäftsführer Lange. „Weil er sich einfach dachte: Schrauben braucht man immer. Und das ist ja auch nicht so falsch. Schrauben braucht man immer noch – auch jetzt, fast 100 Jahre später.“

Website: www.schrauben-preisinger.de