TelefonSeelsorgerin „Grazia“ im Interview

Grazia, Jahrgang 1954, Kunsthistorikerin, wurde über eine Zeitungsanzeige auf die Evangelische TelefonSeelsorge München aufmerksam. Hinzu kommt ein persönlicher Beweggrund, sich als Seelsorgerin zu engagieren: eine schwere Krankheit, bei der sie fast ihre Stimme verlor. Durch diese existenzielle Erschütterung entschied sich Grazia vor 13 Jahren ganz bewusst für den „verbalen Dienst“ am Telefon.

Wie viel Zeit investieren Sie in dieses Ehrenamt?
Ich übernehme wie jeder andere TelefonSeelsorger zwei Dienste pro Monat: eine Tag- und eine Nachtschicht à fünf Stunden. Hinzu kommen Supervisionen. Einmal pro Monat eine interne sowie in regelmäßigen Abständen auch Begleitungen durch externe Fachleute. Da ich mittlerweile selbständig tätig bin, kann ich die Dienste jedoch ganz gut mit meinem Job verbinden.

Sie sind seit 13 Jahren TelefonSeelsorgerin. Haben sich aus Ihrer Sicht die Themen im Laufe der Zeit verändert?
Nach meiner Einschätzung sind die Leiden und Probleme der Menschen die gleichen geblieben: Ängste, Panik, Depressionen, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit. Mobbing und Burn-out gab es auch früher. Sie sind heutzutage aber präsenter, weil sie Benennungen gefunden haben. Man läuft bei der Frage gern Gefahr, dass man eigene Thesen bestätigt sehen möchte. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich mehrheitlich Anrufe von älteren Leuten bekomme. Jüngere Hilfesuchende greifen verstärkt auf die Online-Angebote der Seelsorge zurück.

Was ist das Wichtigste für Menschen, die sich bei der TelefonSeelsorge melden?
Das Wichtigste ist: Ich bin da. Ich höre zu. Ich zeige Empathie. Die Seelsorge über das Medium Telefon ist sehr unmittelbar, sehr intensiv. Ich kann aus meiner eigenen Lebenserfahrung, aus meinem innersten Mitgefühl heraus beraten. Ich bin am anderen Ende der Leitung aber nicht die „Überlegene“ ‒ diejenige, die große Ratschläge erteilt. Aber klar, Rat ist gewollt, ich kann den Anrufenden Wege aufweisen, sie auch nach Bedarf weitervermitteln. An Selbsthilfegruppen, an öffentliche Stellen, an den psychiatrischen Krisendienst. Das Besondere ist, dass die Evangelische TelefonSeelsorge jedem Hilfesuchenden niederschwellige und sofortige Unterstützung ermöglicht.

Welche Bedeutung hat das Ehrenamt für Sie selbst?
Meine Dienste am Telefon sind für mich persönlich nicht nur Weiterentwicklung und Reflexion, sondern auch eine spirituelle Erfahrung: mich in Demut zu üben, mich zurückzunehmen. Denn ich lasse mich, meine Welt und das, was mich beschäftigt, zurück. Während der Seelsorge bin ich Projektionsfläche, stehe ich dem Anrufenden ganz zur Verfügung. Ein zutiefst christlicher Dienst am Nächsten. So kann auch ich zu mir selbst finden. Zu meinen inneren Werten, zu denen ich in meinem Berufsleben nicht finde. Ich bin in einem oberflächlichen, konkurrenzgetriebenen Bereich tätig, in dem auch gerne die Ellenbogen ausgefahren werden. Deshalb ist dieses Ehrenamt auch so ein großes Geschenk für mich selbst.

Wie bereiten Sie sich auf Ihre Dienste vor?
Was ich bereits vor vielen Jahren beim Hospitieren gelernt habe, leitet mich heute noch immer: Vor den Diensten halte ich erst einmal inne. Wie beim autogenen Training. Oder wie im Gebet. Denn auch ich brauche Kraft, um den hilfesuchenden Menschen begegnen zu können und mit ihnen in Beziehung zu treten. Auf Ohrenhöhe. Und um ehrlich und authentisch zu sein.

Für den Anrufenden ist der Griff zum Telefonhörer ein wichtiger Schritt. Die erste Selbsthilfe.
Genau. Es ist der erste selbstbestimmte Akt der Selbsthilfe und Selbstfürsorge. Gleichzeitig aber auch ein Eingeständnis, dass irgendetwas falsch läuft. Ein erstes Symptom. Jedes Problem kann einen wie in einem Karussell festhalten. Schnelle Lösungen von heute auf morgen sind oft nicht möglich. Es gibt Anrufer, die sich bei uns über längere Zeiträume regelmäßig melden. Ich ermuntere sie auch dazu. Denn sie haben dann auch immer die Chance, neue Ideen und Impulse von meinen Kollegen zu bekommen. Von 110 ehrenamtlich engagierten Kollegen.

Treffen Sie bei Ihrer Arbeit als Seelsorger manchmal auf Menschen, denen Sie nicht helfen können?
Ja. Auch ich hatte zum Beispiel akut suizidgefährdete Anrufer. Auch für sie gilt das absolute Gebot der Anonymität. Die Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht des Anrufenden überwiegt. Ich kann niemanden retten, der nicht gerettet werden möchte. Das ist unter Umständen nach außen erst einmal schwer zu vermitteln.

Wie schalten Sie nach solchen Telefonaten ab? Sprechen Sie darüber mit Kollegen, Freunden oder Familienangehörigen?
Ich ziehe die Grenzen zwischen meinem Privatleben und meinem seelsorgerischen Engagement, um mich selbst zu entlasten und mich zu schützen. Daher spreche ich mit meiner Familie nicht darüber. Nach schweren Fällen, die Kraft rauben, suche ich unmittelbar das Gespräch mit den Kollegen. Nachts sind wir zu zweit im Dienst. Ich kann dann eine Pause machen, mich austauschen. Auch weiß ich, dass ich jederzeit die Supervisionen durch die Hauptamtlichen der Evangelischen TelefonSeelsorge in Anspruch nehmen kann. Einzeln oder in der Gruppe. Es gibt mehrere Supervisionsgruppen mit Externen, in denen belastende Fälle ausführlich besprochen werden können. Die Begleitung durch das ebz ist sehr eng und sehr konstruktiv organisiert. Wir alle werden dazu ermuntert und geschult, die eigenen Grenzen anzuerkennen. Ich bin eben nicht nur Projektionsfläche. Die Selbstfürsorge gilt auch für mich.

Evangelische TelefonSeelsorge: Teddy-Bär hält ein Schild mit der Aufschrift "Bitte um ein Update für meine Seele"

Interview mit Telefonseelsorgerin Grazia im PDF