Josef ist Jahrgang 1964. Er ist Familienvater und Journalist. Seit drei Jahren engagiert er sich ehrenamtlich bei der Evangelischen TelefonSeelsorge in München. Dort ist er auch in der Chat- und Mailseelsorge aktiv.
Wann hattest du zum ersten Mal das Gefühl, dass du ein Talent dafür hast, anderen zu helfen?
Ich halte mich für einen hilfsbereiten Menschen. Ich konnte mir immer schon vorstellen, so etwas auch professionell zu machen. Dann gab es eine Lebensphase, in der ich merkte, dass irgendetwas fehlt. Eines der Motive war sicher, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ich bin eins von sieben Kindern. Wir waren eigentlich arm. Aber trotzdem hatte ich Glück; ich konnte das Abitur machen und studieren, der Staat hat mich unterstützt und gefördert. Es gibt ganz viele Leute, denen es viel schlechter geht.
Aber das war nicht der einzige Beweggrund. Ich habe gemerkt, dass mir meine Arbeit, das journalistische Handwerk, zwar Spaß macht, dass es mich aber nicht erfüllt. Mit Ende 40 dachte ich, nun wäre der geeignete Moment für eine Midlife-Crisis. Erst wollte ich als Journalist etwas mit Tieren machen. Dann war ich einmal drei Wochen auf einer Entwicklungshilfereise in Tansania. Ich war aber im Alltag hier in Deutschland, und Tansania so weit weg. Mir hat dann einfach die Nähe zu den Leuten gefehlt.
Erst dann fiel mir ein, dass meine Schwester in einer anderen Stadt TelefonSeelsorge macht. Ich selbst hatte mir früher mein Studium im Callcenter verdient. Es klingt mir heute noch in den Ohren: „Anzeigenalarm, Badische Zeitung, guten Tag“. Aber das war auch ein sehr gutes Training. Ich erkenne schon an der Stimmlage, wie jemand drauf ist, ob man mit jemand ein bisschen spielen kann oder ob man vorsichtig sein muss. Dann bin ich zu einem Informationsabend ins ebz gegangen.
Gibt es Dinge, die man anonym besser besprechen kann als mit Freunden oder Bekannten?
Diese Anonymität bei der Seelsorge hielt ich am Anfang ehrlich gesagt für affiges Gemache. Man muss nicht bei jedem sofort groß an die Glocke hängen, dass man das macht, aber was ist schon dabei. Erst später habe ich gemerkt, dass Anonymität bei der TelefonSeelsorge zentrale Vorteile hat. Wenn jemand bei mir anruft und sagt, er möchte sich töten, dann kann ich als anonyme Institution ganz normal darüber sprechen. Andere Gesprächspartner reagieren anders, die Eltern, Lebensgefährten und Therapeuten flippen aus. Auch bei anderen Themen hilft es anonym zu bleiben. Manchmal erzählt mir jemand, dass er pädophil ist und seine Tochter begehrt. Oft berichten Anrufer von Seitensprüngen oder davon, dass es eine Geliebte gibt und die Situation unerträglich ist. Da ist viel echtes Leid, das gar nicht immer etwas mit schrecklichen Verbrechen zu tun hat. Das kann man mit Bekannten nicht bereden. Bei mir darf der Anrufer über alles Denkbare sprechen.
Und ist dem Anrufer auch bewusst, dass der Josef quasi eine erfundene Person ist?
Ich melde mich mit: „TelefonSeelsorge, Grüß Gott“. Die meisten sind zufrieden, dass sie mit einer Institution sprechen, ich bin dann die personifizierte Institution. Wenn Anrufer mir ihren Namen sagen, dann nenne ich mich Josef. Mir persönlich ist das gar nicht so wichtig. Ich habe kein Problem damit, dass jemand weiß dass ich TelefonSeelsorger bin. Das ist ja nicht ehrenrührig.
Wie geht man damit um, wenn jemand am Telefon damit droht sich umzubringen?
Gedroht wird eigentlich nicht. Das kommt eher im Erzählen. Viele sagen erst gar nicht, sie hätten vor sich umzubringen. Da ist eher so eine depressive Stimmung. Man merkt dann am Telefon, dass gleich eine dunkle Geschichte kommt. Dann fragst du ganz klar: „Haben Sie schon mal darüber nachgedacht sich das Leben zu nehmen?“ Ich spreche das selber an. Viele trauen sich nicht, das auszusprechen. Wir gehen dann wie mit einer Taschenlampe gemeinsam in diesen dunklen Raum, in diesen „Suizidraum“ und leuchten den aus. Dabei kommt es oft zu bizarren Gesprächen; man diskutiert die Vor-und Nachteile der verschiedenen Methoden.
Im Gespräch normalisiert sich die Thematik. Der Anrufer nimmt die Gedanken aus seinem Kopf heraus und legt sie auf den Tisch. Dadurch verlieren sie ihren Schrecken. Im Anschluss kann man dann über ganz andere Dinge sprechen. Darüber zum Beispiel, dass Suizidgedanken ein Symptom von Depressionen sind. Eine der wichtigsten Eigenschaften als TelefonSeelsorger, generell als Seelsorger ist es, keine Angst vor diesem Thema zu haben.
Du bist nicht überrumpelt, wenn jemand anruft und droht sich umzubringen?
Nein. Eine Schicht ohne ein Gespräch über Suizidgedanken gibt es kaum. Besonders im Chat der Seelsorge, der viel vom jüngeren Publikum genutzt wird, geht es oft um die Verzweiflung junger Frauen und Männer zwischen 13 und 17 Jahren. Ich bin fett, keiner liebt mich, ich bringe mich um: Das ist der Dreiklang. Ich hätte mir nicht träumen lassen, wie viele junge Menschen hier mit ihren Geistern ringen.
Hast du manchmal jemanden am Telefon, dem du einfach nicht helfen kannst?
Ja. Also eigentlich fast immer. Wenn man unter helfen versteht, dass das Problem des Anrufers gelöst werden kann. Dass man bei seelischen Problemen helfen kann, wie bei einem kaputten Fernseher, das kommt vielleicht zweimal im Jahr vor. Ganz oft sind die Probleme aber psychische Krankheiten wie Depression und Schizophrenie. Und diese Probleme sind so schlimm, weil die Menschen einsam sind und zu wenig Kontakt mit der Familie und mit Freunden haben.
Als Seelsorger haben wir nicht den Ansatz, Probleme zu lösen. Es geht darum, zuzuhören und die Schwingung des Anrufers wahrzunehmen. Die Basisarbeit für uns ist, den Leuten die Last abzunehmen. Wenn sie dann entlastet und offen sind, dann hilft es auch manchmal, gemeinsam über Probleme zu lachen. Wenn jemand nicht allzu verzweifelt ist, kann man verschiedene Maßnahmen diskutieren. Gibt es einen Familienangehörigen, mit dem man über das Problem sprechen kann? Hat der Anrufer sich mit seiner Krankheit einem Arzt anvertraut? Manche Leute kommen gar nicht auf den Gedanken, dass sie eine Depression haben könnten. In der Seelsorge geht es darum, mitzuschwingen, mitzufühlen, Stimmungen zu ändern, Verzweiflung zu nehmen und andere Perspektiven einzunehmen. Die große Kunst ist es, zusammen mit dem Anrufer Lösungen zu finden, die von ihm selbst kommen, also quasi schon die ganze Zeit in ihm drinnen waren.
Wie bleibst du als Seelsorger positiv?
Ich bin ehrlich gesagt immer total beschwingt, wenn ich von der Schicht komme. Zuerst dachte ich, irgendwas stimmt mit mir nicht. Als ich mich meinem Supervisor anvertraut habe, hieß es, das sei bei vielen Seelsorgern so. Die Offenheit und die tiefgründigen Gespräche, die ich erfahre, sind sehr belebend. Immer wieder bin ich total inspiriert davon, wie tapfer manche vom Schicksaal geschlagene Menschen durchs Leben gehen. Natürlich ist meine Stimmung manchmal auch bedrückter. Für mich ist es besonders schlimm, wenn Kinder betroffen sind, bei Trennungen oder wenn ein Elternteil verstorben ist. Nach solchen Gesprächen mit Eltern oder wenn ich jemanden trösten muss, der eine Stunde lang fast nur weint, brauche ich eine Pause.