Leiter der Evangelischen TelefonSeelsorge München
Norbert Ellinger leitet die Evangelische TelefonSeelsorge München seit März 2015. Zuvor betreute der verheiratete Vater von fünf Kindern vier Jahre lang Studierende als Studienleiter und war zwölf Jahre Gemeindepfarrer in München-Freimann. Ebenfalls als Gemeindepfarrer war Ellinger, der unter anderem in Tübingen und São Paulo Theologie studierte, in Rio de Janeiro tätig. Er ist zertifizierter Onlineberater mit mehrjährigen Zusatzausbildungen in Klientenzentrierter Gesprächsführung, Kommunikationspsychologie, Geistlicher Begleitung, Systemischer Seelsorge und Supervision.
Herr Ellinger, ist es Zufall, dass das Gründungsdatum der Evangelischen TelefonSeelsorge München in das mythenumwobene Jahr 1968 fällt?
Ich denke nicht. 1968 war eine Zeit der Abbrüche, Umbrüche und Neuaufbrüche. Auch in der Seelsorge gab es damals neue Impulse aus den Vereinigten Staaten. Von dort brachten deutsche Theologen ein neues Seelsorgeverständnis mit nach Hause.
Ist die Telefonseelsorge eine amerikanische Erfindung?
Nein, eine englische. Anfang der 1950er Jahre erlebte ein anglikanischer Pfarrer einen Suizid in der eigenen Familie. Seine Nichte brachte sich um. Daraufhin schaltete er eine Zeitungsanzeige mit dem Text: „Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie folgende Nummer an…“ Daraus hat sich später die TelefonSeelsorge mit Ehrenamtlichen entwickelt.
München war hier innerhalb Deutschlands aber nicht vorne dran, oder?
1956 entstand die erste Evangelische TelefonSeelsorge in der Bundesrepublik, und zwar in Berlin. München war im Vergleich sogar ein ziemlicher Nachzügler. Hier war es die Initiative von Helmut Harsch, einem späteren Professor in praktischer Theologie. Harsch installierte die TelefonSeelsorge in München auf Bitten des damaligen Dekans Georg Lanzenstiel. Schon länger gab es in München die TelefonSeelsorge von katholischer Seite, die zunächst nur mit Hauptamtlichen arbeitete. Bei uns war demgegenüber neu, dass unser Angebot von Anfang an von Ehrenamtlichen getragen war.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit der Katholischen TelefonSeelsorge?
Unsere Telefonnummer lautet 0800 – 111 0 111, die der katholischen Seelsorge 0800 – 111 0 222. Damit können Hilfe Suchende zunächst die eine oder andere Einrichtung anwählen. Wenn die eine Nummer besetzt ist, wird automatisch zur anderen weitergeleitet. Wir arbeiten sehr eng ökumenisch zusammen – auch mit den anderen südostbayerischen Stellen in Traunstein, Rosenheim, Bad Reichenhall und Mühldorf am Inn.
Laut Statistik kreisen die Gespräche am häufigsten um depressive Verstimmungen, Krankheiten und Einsamkeit. Gibt es Themen, die aktuell Konjunktur haben?
Das Thema Einsamkeit nimmt zu. Das gilt auch für die Bereitschaft, über psychische Erkrankungen zu reden. Es gibt immer mehr psychisch Kranke, die bewusst die Telefonseelsorge als Stütze anrufen.
Jüngere Menschen nutzen häufiger die Kanäle Chat und E-Mail als Ältere. Gibt es denn bei den Problemen auch auffällige Unterschiede zwischen Alt und Jung?
Jüngere haben häufiger Sorgen wegen Partnerschaften, Familie und Arbeit. Auch Selbstmordabsichten sind in dieser Gruppe häufiger. Bei Älteren sind Einsamkeit und Krankheit die vorherrschenden Themen.
Mehr als drei Viertel der Anrufer sowie der User von Chat und E-Mail sind weiblich. Wieso ist der Frauenanteil so hoch?
Vermutlich, weil Frauen anders mit Sorgen umgehen. Männer bekommen immer noch eingetrichtert, sich keine Probleme anmerken zu lassen und selber damit fertig zu werden. Frauen lernen eher, sich darüber auszutauschen. Die Ursachen liegen meines Erachtens in der Erziehung und unserer Kultur.
Ändert sich denn an dieser Geschlechterunwucht etwas?
Bei den Anrufern beobachte ich diesbezüglich ehrlich gesagt keine Veränderungen. Unter unseren Ehrenamtlichen dominieren ebenfalls seit jeher die Frauen. Hier wächst aber der männliche Anteil in den letzten Jahren.
Wie fangen Sie Ihre Ehrenamtlichen auf, wenn ein Gespräch schief gelaufen ist und die Helfer sich überfordert fühlen?
Wir Hauptamtlichen sind die Seelsorger der Ehrenamtlichen. Sie können sich jederzeit an mich und meine Stellvertreterin Martha Eber wenden. Tagsüber sind wir sowieso meistens da, in Notfällen auch nachts telefonisch erreichbar. Hinzu kommt die Supervision, auch durch acht externe Supervisoren. Dank der fundierten einjährigen Ausbildung, die einen Abend in der Woche und auch an einigen Wochenenden stattfindet, gehen die Ehrenamtlichen von Anfang an gut vorbereitet ans Telefon oder an den Rechner.
Was hat sich im Lauf der Jahre verändert?
Es ist offenbar immer schwieriger, Beruf, Familie und Ehrenamt miteinander zu vereinbaren. Für uns ist es immer schwerer geworden, unter der Woche die Nachtschichten und auch die Wochenenddienste zu besetzen. Positiv ist, dass sich inzwischen viele Jüngere bei uns engagieren. Im Lauf der Jahre hat sich das Themenspektrum erweitert. Es haben sich viele spezialisierte Angebote entwickelt. Es gibt heutzutage Suizidhotlines, Suchthotlines, frauenspezifische Hotlines, Hotlines für psychisch Kranke, den psychiatrischen Krisendienst. Wir bleiben aber der Gemischtwarenladen, der alles abdeckt. Das ursprüngliche Hauptthema Suizidalität – ganz früher hießen wir einmal „Lebensmüdenhilfe“ – ist heute nur noch ein eher kleines Thema unter vielen.
Im Jahr 2000 verzeichnete die Statistik gut 34.000 Anrufe, heute sind es nur noch knapp 20.000 Kontakte im Jahr. Woran liegt das?
Als Handys neu waren, hatten wir eine richtige Anrufschwemme – zum Teil von notorischen Anrufern aus dem gesamten Bundesgebiet. Für uns war das keine einfache Zeit, weil die Leitungen dauernd besetzt waren und viele Menschen mit ihren Nöten gar nicht mehr zu uns durchkamen. Inzwischen hat sich das normalisiert, und dank des Routings werden Anrufer aus München tatsächlich zu uns geleitet. Es kann immer noch sein, dass man es unter unserer Nummer mehrmals probieren muss. Aber zum Glück nicht mehr zehn Mal wie damals.