Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, das ich hatte. Dieses innere Vibrieren, weil man so aufgeregt ist. Jede Zelle des Körpers singt.  Ich stand vor dem riesigen, schmiedeeisernen Tor und presste meine Nase gegen das kühle Metall. Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein. Ich hatte etwas Großes entdeckt. Das war mir sofort klar. Mit glühenden Wangen versuchte ich einen Blick in diese verborgene Welt zu erhaschen. Alice im Wunderland. Im Hintergrund das stetige Rauschen der Isar. Es war Sommer. Cowboy Club München e.V. las ich auf dem kunstvoll gestalteten Holzschild. Ein Cowboy schwang seine Reitgerte und hielt sich tapfer auf seinem buckelnden Mustang. Allein das Emblem vermittelte Abenteuer pur. Mein Vater war noch einige Gehminuten von mir entfernt. Ich blickte mich um und suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, einen besseren Blick zu bekommen. Ich schlich hin und her. Der dichte, grüne Bewuchs mit allerlei Bäumen, Büschen und vor allem den zahlreichen Brennnesseln machte es mir unmöglich, näher heranzukommen.

Dreißig Jahre hat es gedauert, aber heute möchte ich mich auf die Reise in den Münchner Wilden Westen begeben. Auf den Spuren der Cowboy- und Indianer-begeisterten Mitglieder herausfinden, was hinter dem verschlossenen Tor meiner Kindheit steckt.

Es ist ein grauer windiger Tag und nichts erinnert mich an die grüne Wildnis von damals. Alles sieht farblos, fast traurig aus. Ich stehe vor demselben verschlossenen Tor. Nur: Aus heutiger Sicht ist es nicht mehr übermäßig groß. Kinderaugen verändern die Welt. Wie ausgestorben liegt das Gelände dahinter. Ein verfallen aussehendes Tipi hinter kahlen Bäumen. Wintergerippe. Eine altmodische, bronzene Glocke ist die einzige Möglichkeit, auf mich aufmerksam zu machen. Ich ziehe am Seilstrang. Blechern schneidet es durch die Stille. Hundegebell. Ich warte. Nichts. Ich ziehe erneut an der Kordel und checke meinen Terminkalender, ob ich mich auch nicht im Tag geirrt habe. Der Wind zerrt an meinen Haaren. „Na das fängt ja großartig an“, denke ich mir. Ich hatte kein Willkommensbanner erwartet, aber wenigstens irgendjemanden, der auf mein Läuten reagiert. Nach einer scheinbaren Ewigkeit kommt eine junge Frau auf mich zu. Sweatshirt, Reiterhose und Stiefel. Ich bin enttäuscht. Kein Cowboy-Outfit. Sie öffnet mir das Tor und geleitet sie mich in Richtung des Longhorn-Saloons. Der Kies knirscht unter meinen Winterstiefeln. Die mahagonibraune Holztür ächzt und nachdem sich meine Augen an die Änderung der Lichtverhältnisse gewöhnt haben, blicke ich in das Herz, die Zentrale des Cowboy-Club München e.V..

Amerikanische Flaggen und Tiertrophäen

Die Wände sind halbhoch mit mittelbraunem Holz verkleidet. Die obere Hälfte ist von beiger Tapete bedeckt. Freigelegte Dachbalken vermitteln einen rustikalen Scheunen-Look. An den Wänden hängen zahlreiche Bilderrahmen in verschiedenen Größen. Amerikanische Flaggen und ausgestopfte Tiertrophäen zieren dieWände . Handbeschriebene Schiefertafeln bewerben die im Wilden Westen alltäglichen Angebote, wie beispielsweise Hard Boiled Eggs 5 Cents. In der Mitte der Wand ist ein aus hellen Steinen gemauerter Schornsteinvorbau zu sehen. Über dem dortigen Kamin prangt ein lebensechter Büffelkopf. Ein Feuer prasselt hinter der Glaswand, die das einzige moderne Elemente hier zu sein scheint.
Zu meiner Rechten erstreckt sich die voll ausgestattete Bar des originalgetreuen Saloons mit einem eindrucksvollen hohen Tresen aus mittelbraunem Holz und einer Kupferplatte als Abschluss. Ich fühle mich, als hätte mich eine Zeitmaschine in den Wilden Westen teleportiert. Es fehlen nur die typischen Kartenspieler, die Can-Can Damen und der klassische Bad Guy, der Randale macht und anfängt, mit seinem Revolver um sich zu schießen. Weiter hinten steht ein wunderschönes, selbstspielendes Klavier mit moos- und elfenbeinfarbenen, schillernden Abalone-Einlagen. Nur zwei der zahlreichen Tische sind besetzt, jedoch bedeckt mit dunkelroten quadratischen Tischdecken, die mich an einen karierten Americana-Quilt erinnern. Bronzefarbene Kerzenständer mit cremefarbenen Kerzen darauf platziert.

Mann mit grauem Schnurrbart im Cowboy-Outfit sitzt vor Kamin in einem originalgetreuen Western-Saloon

Gerhard Lack, Manager des Cowboy Club München e.V.

An einem der hinteren Tische, direkt vor dem Kamin, thront ein älterer Mann mit grauem Schnurrbart. Er trägt einen hellbeigen Cowboyhut, ein schwarzes Sweatshirt und die klassische, mittelblaue Levis-Jeans. Er könnte – rein von der Optik her – genauso gut einer der Cowboys sein, die ich während meiner Reise quer durch die USA getroffen habe. Im Gegensatz zu diesen jedoch, strahlt dieser Mann eine gewisse Unnahbarkeit und Autorität aus. Er erinnert mich sofort an meinen Vater. Das muss Gerhard Lack sein, der Manager des Clubs, mit dem ich verabredet bin, um mehr über den Verein zu erfahren. Ich bemerke, wie ich nervös werde. Die zehn Schritte dorthin erlebe ich wie in Zeitlupe. So müssen sich Bittsteller vor ihrer Audienz bei Mario Puzos Paten gefühlt haben.

Ich stehe vor Gerhard Lack, schüchtern wie ein Schulmädchen, und stelle mich vor. Mit einer antik aussehenden Tabakpfeife in der Hand bedeutet er mir Platz zu nehmen. Eine Frau mittleren Alters erscheint hinter dem Tresen und fragt mich, ob ich etwas trinken möchte. Ein Wasser, um meine trockene Kehle zu befeuchten ist jetzt genau das Richtige.
Gerhard Lack fragt mich unvermittelt, wie ich auf den Club gekommen bin. Langsam kommt unser Gespräch ins Fließen und ich erkenne die Lachfältchen in seinem Gesicht. Um den Mund herum immer öfter ein schmunzelndes Lächeln.
Das Gespräch nimmt eine private Wende als die Sprache auf unsere Väter kommt. Ich frage: „Ist ihre Tochter auch Mitglied hier im Club?“ Er verneint. „Ehrlich? Je älter ich werde, umso mehr Interesse habe ich am Leben und der Vergangenheit meines Vaters“, erwidere ich. Lack erzählt mir, er habe Gespräche mit seinem Vater mit dem Diktiergerät aufgenommen und dann zu einem Büchlein zusammengefasst. Quasi als Aufarbeitungsprojekt. Im Laufe unseres Gesprächs, erkenne ich, dass hinter der etwas rau wirkenden Fassade ein jung gebliebenes, vielschichtiges Herz schlummert. Ich erkenne mehr und mehr Parallelen zu meinem eigenen Vater.

Zwei Weltkriege und immer noch präsent

Wir unterhalten uns über die Geschichte des Clubs und was ihn so einzigartig macht. Es gibt zwar einige Western Clubs in Europa, sogar hier in München. Dieser jedoch ist einer der ältesten, wenn nicht der älteste Club in ganz Europa. Der Vater unseres geliebten „Blasius“ Autors Fred Sommer, sein Onkel Hermann Sommer und ein dritter im Bunde, namens Martin Fromberger, gründeten den Club 1913 ursprünglich als Losverein „Wild West“. Das Ziel der Jungen damals war es, mit einem entsprechenden Gewinn nach Amerika, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten auszuwandern. Da das leider nicht funktioniert hat, blieben die Jungen in München und gründeten den Cowboy-Club. Dieser hat seither zwei Weltkriege überdauert. Eine für mich sehr beeindruckende Tatsache.

Gerhard Lack bietet an, mir das im hinteren Bereich des Clubs, auf einer Empore eingerichtete, Museum des Clubs zu zeigen. Diese Chance lasse ich mir natürlich nicht entgehen. Er entschuldigt sich für die aufgestellten Biertische, welche unseren Rundgang behindern. Heute findet hier eine Geburtstagsfeier statt. „Der Verein finanziert sich teilweise über die Vermietung der Räumlichkeiten“, erklärt er mir. Die stattliche Sammlung bestehend aus vererbten Unikaten der Club-Gründer und diversen Leihgaben aktueller Mitglieder. Die große Leidenschaft des Clubs ist das Studium der Lebensweise im Wilden Westen des Amerikas des 19. Jahrhunderts und das Sammeln von originalen authentischen Objekten dieser Zeit. Dies reicht von Revolvern samt Munition über verschiedenste, teilweise kunstvoll verzierte Pferdesättel bis hin zu echten, originalen Federhauben und aufwändig gearbeiteten indianischen Perlengewändern.
Es gibt viel zu sehen, viel zu entdecken und zu bestaunen. Ich bin regelrecht überfordert von diesem magischen Sammelsurium historischer Schätze. Eine Reizüberflutung im positiven Sinne.

Wir sprechen weiter über die Leidenschaft der Club-Mitglieder, über Buffalo Bills Wild West Show im Jahre 1890 auf der Theresienwiese und Gerhard Lack betont: “Es geht um die authentische Erfahrung, wie damals im Wilden Westen gelebt wurde. Nicht das von Hollywood vermittelte John Wayne-Bild.“ Leider ist die jüngere Generation nicht mehr so begeistert von Karl May und dem Wilden Westen, wie das früher einmal der Fall war. „Der Club hat es leider ein wenig verschlafen, sich für die jüngere Generation interessant zu machen.“ Deshalb gibt es, wie ich heraushöre, Nachwuchsprobleme. Sehr schade wie ich finde, denn es wäre tragisch, wenn dieser geschichtsträchtige Verein die nächsten Jahrzehnte nicht überdauern würde.

Nach unserem Rundgang durch das Museum führt mich Gerhard Lack nach draußen in das Außengelände. Als erstes machen wir uns auf den Weg zum Stall. Auch wenn nur noch zwei von den einst zahlreichen Pferden übrig sind: Die Mitglieder können immer noch in den Sonnenuntergang reiten – ganz nach Art des Marlboro Man. Die tägliche Pflege und Bewegung der Tiere teilen sich die Wild Westler untereinander auf.

Rollenspiel am Wochenende

Wir verlassen den Stall und laufen über den Kiesweg zu einer größeren, rechteckigen Blockhütte. Wieder knirscht der taubengraue Kies unter meinen Stiefelsohlen. Gerhard Lack öffnet das etwas angerostete Schloss und quietschend gibt die rustikale Türe den Weg frei. Ich trete ein und befinde mich in der Trading Post. Selbst gegerbte Felle und die originalgetreue Einrichtung mit sämtlichem Inventar erinnern mich sofort an die Show „Frontier“. Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen in flauschige Felle gekleideten Declan Harp an dem langen Holztisch sitzen und seinen nächsten Schritt im Kampf um den Pelzhandel plotten. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. „Einige der jüngeren Mitglieder verbringen hier ab und zu das Wochenende, manchmal auch sogar eine Woche und schlafen dann auch hier drin“, erklärt mir Lack.

Ein paar der „alt eingesessenen“ Mitglieder haben hinter der Trading Post ihre permanenten Zelte und Hütten aufgestellt, in denen sie ihre Life Action Role Play (LARP) -Zeiten verbringen. Es hat etwas von Wellblech-Romantik. Vor allem im Sommer stelle ich mir das aber heimelig vor. Mit Lagerfeuer, dem Klassiker „Baked Beans“ und Live-Musik. Leider ist nur noch ein Tipi-Veteran vorhanden. Es erinnert mich an ein elfenbeinfarbenes Großtier-Gerippe das ausgemergelt hier liegt und auf seinen Verfall wartet. „Das einzige Mitglied, das sich bisher um die Instandhaltung gekümmert hat, ist nun über 80 Jahre alt und leider nicht mehr in der Lage, sich mit demselben, jahrzehntelangen Elan und Einsatz um die Erhaltung zu kümmern“, erklärt Lack den Zustand.
Der Anblick macht mich traurig. Ich stelle mir vor, wie einst, mit Federhauben geschmückte Häupter und Cowboys, dazwischen vor Aufregung rotbackige Kinder, zusammen auf kuscheligen Fellen in diesem riesigen Zelt saßen. Die Friedenspfeife machte die Runde. Geschichten wurden erzählt. Ich höre das Kinderlachen in meinem Ohr. Es muss doch möglich sein, diese Vergangenheit in die Zukunft zurückzuholen.

Simpsons sind auch mit dabei

Unsere Tour ist beendet und wir laufen schweigend nebeneinander zurück zu unserem Ausgangspunkt. Mittlerweile raucht es aus einem direkt vor dem Saloon aufgestellten, überdimensionalen Smoker. Es duftet verführerisch nach Barbecue. Dies ist einer der seltenen Momente, in denen ich mich frage, weshalb ich Vegetarierin geworden bin. Der Wirt, ein sympathischer Schnurrbartträger mit einem freundlichen Gesicht, kommt uns entgegen, um das Fleisch zu wenden. Die Tür des Saloons öffnet sich. Wir stehen wieder an unserem Tisch und besprechen, dass ich an der Vollversammlung in ein paar Wochen teilnehmen könnte, um einen tieferen Einblick zu bekommen und eigene Bilder zu schießen.

„Und wenn ich gerne Mitglied werden möchte?“ frage ich Gerhard Lack. Dann solle ich am besten zur Versammlung kommen und vor der Gruppe erklären, dass ich gerne Mitglied werden möchte. Dem schließt sich eine Probezeit von 6 Monaten an, um zu sehen, ob ich auch zum Club passe. Auf mein wohl etwas besorgtes Gesicht hin, fügt Gerhard Lack schnell hinzu, dass sie alle möglichen Spezies von Menschen als Mitglieder haben. Sogar Simpsons. Ich lache herzhaft und weiß genau, was er meint. Ich nehme mir also vor, zur Vollversammlung zu kommen, und Herr Lack verabschiedet mich mit seinem herzlichen Cowboy-Händedruck.

Ich verlasse den Saloon. Sobald ich über die Schwelle trete, steigt mir wieder dieser köstliche Duft von gegrilltem Fleisch in die Nase. Dieser begleitet mich auf meinem Weg über den Kiesweg hinüber zum Eingangstor. Ein letztes Mal knirschen die grauen Kieselsteine unter meinen Schuhsohlen.
Ich öffne das Tor, trete hindurch und befinde mich wieder im Jahre 2019.

Das Tor meiner Kindheit schließt sich hinter mir und ich fühle eine Mischung aus Frohsinn und Melancholie, die bis zum heutigen Tage anhält.

 

 

Weitere Informationen:

http://www.cowboyclub.de/