Unruhe- und Angstzustände

Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen. Foto: Kosima Graf

Die Zeit des Nationalsozialismus beeinflusst unser Gefühlsleben noch heute behauptet Jürgen Müller-Hohagen (73), ehemaliger Leiter der Evangelischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle in München-Hasenbergl. Er lebt seit 1982 in Dachau, dem Ort des ersten Konzentrationslagers der Nazis. Beide Hintergründe sind bestimmend für sein Wirken, als Therapeut wie als Autor.

 

Viele Ihrer Veröffentlichungen drehen sich um die NS-Zeit. Wie lautet Ihre zentrale These?

Die Nazi-Zeit ist noch heute in den Familien verankert. Sie hat über Generationen hinweg Spuren in den Seelen hinterlassen. Je mehr verleugnet und verdrängt wurde, umso tiefer sitzen die Traumata, Unruhe, Ängste, Schuldgefühle oder Depressionen. Und wenn Traumata nicht zur Sprache kommen, dann werden sie an die Kinder weitergegeben.

Wie sind Sie auf diese Zusammenhänge gestoßen?

Ich habe nicht speziell nach Kindern von Nazi-Verbrechern oder nach Abkömmlingen verfolgter Opfer gesucht. Während meiner üblichen Arbeit als Therapeut habe ich bei Klienten gelernt, Hintergründe aus der NS-Zeit zu berücksichtigen. Sie können bestimmender Teil für deren Probleme sein.

Gibt es dazu Beispiele aus Ihrer psychotherapeutischen Praxis?

Da ist der neunjährige Sinti-Junge mit autoaggressiven Handlungen. Sein Vater war als Kind im Konzentrationslager gewesen. Der Vater war nicht in der Lage, auch kleinere kindliche Aggressionen seines Sohnes, die sich beim Kicker-Spielen mit mir völlig im üblichen Rahmen bewegten, zu ertragen. Oder der siebenjährige Markus, dessen Gedanken um Selbstmord kreisten und der unter extremen Unruhe- und Angstzuständen litt. Erst nach und nach kam das „verschwiegene Drama“ seiner Familie zu Tage: Sein Großvater hatte sich nach dem Krieg erhängt.

Welche Zusammenhänge haben Sie noch herausgefunden?

Der Bombenkrieg hat in Deutschland eine Trümmerlandschaft auf seelischem Gebiet hinterlassen. Die Erfahrungen im Bombenkrieg und auf der Flucht erzeugten bei den Betroffenen eine große Hilflosigkeit. Eine falsche Entscheidung kann das Leben kosten, doch eine richtige Entscheidung gibt es gar nicht, weil alles am Zufall hängt. Diese Bedrohungsgefühle haben sich auf folgende Generationen als diffuse Ängste und Unruhe übertragen.

Wie übertragen sich diese Gefühle auf die Kinder?

Die Menschen haben Gewalterfahrungen und Ängste der Kriegszeit verdrängt. Damals stand der Wiederaufbau im Mittelpunkt und überdeckte Ängste und Depressionen. Diese verdrängten Gefühle der Eltern wurden von ihren Kindern wahrgenommen. Kinder brauchen feine Antennen für Wahrheit und Lüge, um sich zu orientieren, ob sie existenziell sicher sind oder nicht. Unstimmigkeiten verwirren sie und lassen ihnen keine Ruhe. Unausgesprochenes und Verleugnetes nehmen sie auf, können es aber nicht erfassen. Unter Umständen leiden sie ein Leben lang an den verborgenen Schmerzen ihrer Eltern.

Von welchen psychischen Problemen ist die Kriegsgeneration besonders betroffen?

Seelische Langzeitwirkungen von Soldaten sind beispielsweise hohe Reizbarkeit, cholerische Zornausbrüche, Unberechenbarkeit, Schwanken zwischen Unnahbarkeit und großer Bedürftigkeit, Mangel an Einfühlung, Kommunikationsstörungen, Ausüben von massiver Gewalt innerhalb der Familie, seelische Gewalt, Alkoholismus, Partnerschaftsprobleme.

Wie wirkt sich das auf die nachfolgende Generation aus?

Die seelischen Auswirkungen bei den Nachkommen sind besonders massiv: selbstdestruktive Störungen, unerklärliche Albträume, Gefühle von Heimatlosigkeit, Verlorenheit, nicht verwurzelt zu sein, Wahrnehmungsstörungen, diffuse Ängste bis hin zu unerklärlichen Selbstmordversuchen von Kindern, die in scheinbar sicherem Umfeld aufgewachsen sind.

Die NS-Zeit wird oft mit familiärem Missbrauch in Verbindung gebracht. Gibt es einen Zusammenhang zu heutigen Missbrauchsfällen?

Kindesmisshandlungen heute lassen mich familiäre Traditionen des ‚Dritten Reichs‘ vermuten. Viele NS-Täter und Mitmacher haben nach 1945 im Schoß der Familie weitergemacht. Beispielsweise missbrauchten SS-Männer oder Nazi-Ärzte ihre Töchter, demütigten ihre Söhne oder tyrannisierten die Familie. Im persönlichen Macht- und Gewaltanspruch versuchten diese Väter ihre politische Niederlage zu überwinden. Wie sollten über Nacht aus Tätern, Denunzianten, Zuschauern und Wegsehern friedliche und tolerante Menschen geworden sein?

Gab es in der Bundesrepublik nach 1945 keinen Neuanfang?

Ich gehe von der Erkenntnis aus, dass es 1945 keine „Stunde Null“ gab. Es macht jedoch einen Unterschied, ob jemand als Nachkomme von Tätern oder als Nachkomme von Verfolgten unter psychischen Folgen leidet. Wenn reale Schuld geleugnet wird, dann werden die nachfolgenden Generationen bis tief in die seelisch-geistige Substanz hinein verwirrt.

Was haben Sie von Menschen im Widerstand erfahren?

Ich habe gelernt, dass Verbundenheit zentral ist. Es ist das Gegenmodell zur Nazi-Ideologie. Die Verbundenheit eines Eugen Kessler, langjähriger Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, war mehr als ein Zusammenschluss gegen die Nazis, sie verwies auf Tieferes, hatte letztlich die ganze Menschheit im Blick. So ist sie genau das Gegenstück zu dem, was die Nazis so beispiellos radikal getan haben, nämlich anderen die Zugehörigkeit zur Menschheit abzusprechen.

Wie sollen wir mit dem NS-Erbe umgehen?

Es wäre in verschiedenen aktuellen Fragen wichtig, dass die Gesellschaft genauer Notiz nimmt von den fortbestehenden NS-Verstrickungen in den seelischen Untergründen. In meinen Büchern betrachte ich die gesamte Breite der Hintergründe – von den Verfolgten bis zu den Flüchtlingen und Ausgebombten. Hinsehen und das Gesehene aushalten, heißt meine Botschaft. Schmerzen lassen erst nach, wenn die Ursachen enträtselt sind.