»Ich unterhalte mich mit den Verstorbenen«

Judith Brauneis, Präparatorin.
Foto: Judith Brauneis

Judith Brauneis ist Präparatorin für Humanmedizin. Sie leitet seit 1999 den Sezierbereich in der Pathologie des Münchner Klinikums Rechts der Isar. Vor zehn Jahren hat sie die Zusatzausbildung zur Notfallseelsorgerin abgeschlossen, um bei Verabschiedungen auch die Hinterbliebenen professionell betreuen zu können.

Wie sind Sie auf diesen Beruf gekommen?

Ich war sehr jung, als ich mich entschieden habe, Präparatorin zu werden. Ich wollte was anderes machen als alle anderen, ich wollte auffallen. Und ich habe mich für Anatomie interessiert. Ich wollte den menschlichen Körper kennenlernen und auch den Tod. Das hat mich dann ein paar Jahre lang interessiert, bis die Sinnsuche kam. Und dann wurde ich Notfallseelsorgerin. Woher die Faszination für den Tod kam, weiß ich nicht. Schon als Kind war ich gern auf Friedhöfen und wollte immer die Toten in der Aufbahrung sehen. Aber warum, das weiß ich nicht. Bis zu meiner Ausbildung hatte ich noch keinen Toten wirklich gesehen.

Heute sehen Sie jeden Tag Tote. Macht es einen Unterschied, ob ein Kind oder ein alter Mensch auf Ihrem Sektionstisch liegt?

Oft denkt man ja, es wäre schlimmer bei Kindern. Ich habe gelernt, da nicht zu differenzieren. Ich finde es bei allen Menschen schlimm, und ich bin über die Jahre nicht härter geworden, sondern eher weicher. Es sind immer Leute da, die trauern. Beim Kind sind es die Eltern, die Großeltern, die Geschwister, und bei einem alten Verstorbenen trauern andere Menschen. Ich finde das immer gleich schlimm.

Was entsteht für eine Art Beziehung zwischen Ihnen und dem Verstorbenen auf Ihrem Sektionstisch? Was bewegt einen da? 

Hier im Sektionssaal: gar keine Beziehung, das ist für mich rein medizinisch. Eine Sektion ist für mich ein Fall. Er ist interessant. Natürlich nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren, denn irgendwann hat man alles gesehen. Ich stelle mir den Menschen schon vor, überlege, wie er wohl war, aber das muss dann auch wieder aufhören. Ich nehme eine wissenschaftliche Distanz ein, und die brauche ich auch als Schutz. Auch die Schutzkleidung, die wir tragen, dient nicht nur zum Schutz vor Krankheiten, sondern sie ist auch wie ein Schutzschild zwischen der verstorbenen Person und uns. Wenn wir in der Aufbahrung sind, ist das etwas ganz anderes. Da taucht man in die Geschichte ein. Die Angehörigen erzählen vom Verstorbenen, haben Fotos dabei. Da hat der Mensch eine Geschichte, ein Gesicht. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man stumpft ab, oder man lässt sich ein, erlebt die Traurigkeit und trägt von dieser Traurigkeit auch ein Stück mit. Ich habe mich für Letzteres entschieden, weil ich so bin. Ich möchte mich berühren lassen. Und ich mache das sehr gern, so schlimm es oft auch ist.

Wie viel wissen Sie über die Verstorbenen?

Wenig. Ich weiß lediglich die Eckdaten – Name, Geburtsdatum, Todesdatum und in den meisten Fällen die Todesursache, die der Arzt festgestellt hat. Ich muss aber sagen: Ich lese die Todesursache nur noch selten. Um mich zu schützen. Auch vor der Vorstellung, was man alles bekommen kann, was es alles für Krankheiten gibt. Denn ich sehe ja nur die Leute, die hier sterben. Ich sehe nie die Leute, die das Krankenhaus lebend verlassen. Das suggeriert mir: Hier sterben alle. Deshalb lese ich die Todesursachen nur noch bei sehr jung Verstorbenen, weil mich das dann interessiert. Oder wenn ich die Familie betreue, damit ich informiert bin und drüber reden kann. Die Angehörigen haben immer Fragen. Vor allem den Todeszeitpunkt wollen sie immer wissen, und ob jemand Schmerzen hatte.

Sprechen Sie manchmal mit den Toten?

Ja. Man wird ein bisschen komisch. Für mich gehört das bei der Aufbahrung zur Betreuung dazu. Ich unterhalte mich immer mit den Verstorbenen und sage dann sowas wie „Wilhelm, jetzt kommt gleich deine Familie, und ich verspreche dir, dass ich mich gut um deine Leute kümmere“. Das ist meine Art, mit der Einsamkeit hier umzugehen, und vielleicht hört der Tote das ja sogar.

Man sagt ja, wenn jemand stirbt, verlässt die Seele den Körper. Merken Sie davon irgendwas?

Ja. Man sieht es an den Leichen. Die Angehörigen zeigen mir bei der Verabschiedung oft Fotos von dem Verstorbenen zu Lebzeiten.  Wenn man so ein Foto neben den Toten legt, ist der Mensch auf dem Foto manchmal unendlich weit weg von dem, wie die Leiche aussieht. Daran erkennt man, dass der Körper nicht mehr bewohnt ist. Er ist ein abgelegtes Kleid, in dem keine Seele mehr wohnt.

Denken Sie, die Seelen der Verstorbenen bekommen noch etwas mit in der Zeit nach dem Tod?

Ich glaube, dass die Seelen der Verstorbenen noch eine ganze Weile da sind und nach ihren Familien schauen. Dass die Toten aber hier in der Pathologie herumwandeln, glaube ich eher nicht. Was sollen die auch hier unten. Die sind bestimmt bei ihren Familien. Trotzdem spreche ich mit den Toten, denn vielleicht bekommen sie es doch auf irgendeine Weise mit. Das können Sie auch ruhig schreiben. Wenn man so einen Job hat, halten einen die Leute sowieso für einen Freak. Ich bin spirituell, und ich bin damit ganz offen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft es passiert, dass jemand zu mir sagt: Danke, dass Sie das ausgesprochen haben. Ich hätte mich das nicht getraut.

Ist die Zeit hier in der Pathologie eher eine ruhige oder eine unruhige Zeit für die Toten?

Gute Frage. Absolut unruhig. Man ist ja hier nur zwischengelagert, und es wird an einem herummanipuliert, man wird zurechtgemacht, man wird angezogen, eingesargt, man kann eigentlich nicht zur Ruhe kommen. Vielleicht weiß die Seele auch erst gar nicht, was eigentlich los ist. Auch in der Kühlung ist keine Ruhe, weil da ja ständig jemand reinkommt, der Bestatter, ein neuer Verstorbener, Tür auf, Tür zu. Ruhe kann erst nach der Beerdigung einkehren. Und selbst dann hat man als verstorbene Seele vielleicht noch zu tun, weil man schauen will, wie es mit der Familie weitergeht.

Denken Sie über Ihren eigenen Tod nach?

Ja. Ich habe auch Angst vor dem Sterben. Und mache mir viele Gedanken, zum Beispiel  darüber, was dann aus meiner Mutter wird. Ich habe zu Hause aufgeschrieben, wie ich bestattet werden möchte. Ich will aber jetzt noch nicht sterben. Trotzdem habe ich Angst, dass mir was passiert. Wir alle in der Branche wissen, wie schnell das gehen kann. Ich bin sehr demütig geworden. Und auch mutig. Ich mache lieber Dinge, anstatt zu bereuen, eine Chance verpasst zu haben. Andererseits bin  ich aber auch ängstlich und brauche keine Abenteuer mehr.

Egal, ob Bestatter, Trauerbegleiterin oder Thanatopraktiker: Alle Menschen aus Ihrer Branche, mit denen ich bisher gesprochen habe, schienen mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Das ist nicht einfach ein Job. Das ist eine Bestimmung. Man muss dafür gemacht sein und kann da auch nicht einfach reinrutschen. Das muss man sich gut überlegen, und man muss es wirklich mögen.

Ist das, was Sie hier tun, eine anstrengende Arbeit?

Ja. Ich brauche auch viel Ruhe. Ich ziehe mich oft zurück und möchte meinen Gedanken nachgehen und schlimme Fälle verarbeiten. Früher habe ich mich abgelenkt, viel Party, immer draußen, aber jetzt brauche ich den Rückzug und möchte mich mit den Dingen auseinandersetzen. Die Psyche fordert Ruhe ein. Meine Freunde verstehen oft nicht, dass ich nicht ausgehen möchte, und dass meine Arbeit ein Knochenjob ist. Dass ich nach acht Stunden Leichenschieben und Buckeln und sägen und meißeln im Stehen nichts mehr machen kann, weil ich körperlich und mental erschöpft bin. Der Freundeskreis reduziert sich dadurch auch, und es bleiben nur die wenigen, die verstehen, dass man nach so einem Arbeitstag einfach nicht mehr so kann.

Erfüllt Sie Ihr Beruf?

Ich habe nach zehn Jahren festgestellt, dass mich der Beruf Präparatorin allein nicht mehr erfüllt. Irgendwann geht jeder auf Sinnsuche. Das war bei mir auch so. Die meisten Leute wechseln ihren Beruf nach ein paar Jahren, ich war immer noch hier. Also muss das wohl mein Platz sein. Weil mir das allein nicht mehr genug war, habe ich den Fokus auf die Trauerbegleitung gelegt. Ich hatte in der Zwischenzeit selbst Familienangehörige verloren und wusste daher, was Angehörige in so einer Zeit brauchen. Die Arbeit als Präparatorin mache ich immer noch gern, aber erfüllend ist für mich die Arbeit als Trauerbegleiterin.

Letzte Wege: Aufbruch – Beitrag zum Arbeitsplatz der Präparatorin