Ich war eins mit dem Schweigen

Mein stilles Örtchen werde ich wohl nie wiederfinden. Der Weg dahin war schon recht mühsam: Zwei Stunden mit dem Flugzeug nach Moskau, von dort aus etwa sechs Stunden per Inlandsflug nach Norilsk, das ist die nördlichste Großstadt der Welt. Dann nochmal eine gute Stunde im klapprigen Bus vorbei an den schrottreifen Schienen der nie fertig gebauten Eisenbahntrasse von Moskau nach Peking in die Hafenstadt Dudinka.

Es war Mitte August 2000, der erste Tag des beginnenden sibirischen Winters. Ein Freund und ich wollten den Jenissei hinab bis Krasnojarsk fahren, auf einem Schiff eines Schweizer Tourismusunternehmens. Vorher durften wir aber eine Gruppe Rentierzüchter im Landesinnern besuchen. Acht Mann hoch ging es per Hubschrauber eine knappe Stunde lang Richtung Norden dorthin. Am Ziel eine Gruppe überwiegend älterer Frauen, ein etwa zwölfjähriger Junge und ein paar Teenager-Rentiere. Die Männer waren mit den restlichen Tieren offenbar irgendwo in der Tundra unterwegs.

Irgendwann kam eines der Tiere an und wollte mit mir kuscheln. Ich kraulte es und gab ihm den etwas unrussischen Namen Marlon. Das nahm es stoisch hin. Der Junge tauchte auf, sprach mit mir. Ich kann kein russisch. Das merkte er dann auch. Also drückte er mir die Hand, führte das Rentier fort und kam kurz darauf wieder. Nun war das Tier an einen kleinen Schlitten gebunden – oben drei Längsbalken, unten lange Kufen, um auf dem Permafrostboden fahren zu können. Die Schlittenfahrt, zu der mich der Junge einlud, war deutlich wilder als erwartet: Sie ging durch Pfützen, Gräben und den ersten Schnee. Am Ende sahen wir beide aus wie Schweine. Aber wir hatten Riesenspaß. Die 20 Dollar, die ich dem Jungen schenken wollte, übersah er. Papier, mehr nicht. Scharf war er auf zwei Tafeln Schokolade. Das war was Handfestes.

Wir hatten noch Zeit bis zum Rückflug, und mein Freund und ich beschlossen, eine kleine Wanderung zu unternehmen. Unter uns hartes Moos, über uns blauer Himmel, die Sonne brannte auf uns herunter. Nach vielleicht 500 Metern blieben wir stehen. Und da war sie dann: Die absolute Stille; Kein Vogel, kein Mensch, kein Tier, kein Lüftchen, nichts. Du denkst, Stille wäre einfach nur ein Nichthören? Falsch. Stille hörst Du nicht, Stille spürst Du. Das Gefühl dringt von oben in Deinen Kopf, entspannt Dein Gehirn, und wandert langsam den Körper nach unten und in den Boden, in das Moos, in das Eis darunter, das zu akzeptieren scheint, dass Du es gerade gestört hast, weil Du auf ihm stehst. Du beginnst zu verschmelzen mit dem Land um Dich, der Weite, dem Nichts. Du empfindest ein Glücksgefühl, willst Dich auf den Boden werfen, nie wieder aufstehen.

Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. „Glück“ trifft es nur teilweise. Dieses Gefühl habe ich vorher und auch nachher nie wieder gespürt. Heute bin ich glücklich, wenn ich zurück denke – an dieses Erlebnis bei den Rentierzüchtern, eine Hubschrauberstunde nördlich von Dudinka, im Norden Sibiriens.