Freiraum denken

Vollkommen frei sind wir nie, aber immer freier können wir werden…

7. Mai 2018

Vollkommen frei sind wir nie, aber immer freier können wir werden…

Weltanschauungen kommen und gehen. Noch vor 100 Jahren waren bei uns Atheisten eine Ausnahmeerscheinung in einem Umfeld, das noch wesentlich durch das Christentum geprägt war. Inzwischen ist es, jedenfalls in Intellektuellenkreisen, geradezu umgekehrt. Wer sich in Politik, Medien, Universitäten, Schule und den akademischen Berufen zum Christentum bekennt, wird belächelt als jemand, der den Fortschritt noch nicht zur Kenntnis genommen habe. „Glaubst Du noch, oder denkst Du schon?“ so heißt der eingängige Slogan der „Neuen Atheisten“, die ihre Überzeugungen aus einem materialistischen und mechanischen Naturwissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts abzuleiten können meinen und die heute zumeist das weltanschauliche Sagen haben.

Im Gegensatz zu dieser gerade beschriebenen Situation in der west- und nordeuropäischen Hemisphäre bestimmt der Glaube aber noch immer das Leben der meisten Menschen auf der Erde. Was folgt hieraus im Zeitalter der Globalisierung? Ein Siegeszug des Fundamentalismus? Ein Kampf der Kulturen? Eine Revival des christlichen Glaubens und der Kirchen? Während Europa sein Gesicht verändert, während Populismus und Nationalismus, alte und neue Ideologien aller Schattierungen, kulturelle Klischeevorstellungen und unhinterfragte Vorurteile erneut großen Zuspruch erleben, wird der Glauben mit Engstirnigkeit und eben gerade nicht mit dem Freiraum zur Gestaltung eines gelingenden Lebens assoziiert. Fast aussschließlich auf Mittel- und Westeuropa begrenzt hat das alte Versprechen des Glaubens seinen ursprünglichen Glanz verloren. Viele denken heute beim Thema Religion an fundamentalistische Strömungen, Abschottung in Parallelgesellschaften, längst überholte Konventionen und an einen rückwärtsgewandten Widerstand gegen gesellschaftliche und weltanschauliche Pluralität.

Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert vertraten viele Gelehrte die sogenannte Säkularisierungsthese: dass in den modernen Gesellschaften der religiöse Glaube immer schwächer werden würde, an kulturellem wie politischem Gewicht verlieren würde, sich immer mehr säkularisiere, also verweltlichen würde. Aber in der Realität hat die Religion niemals verschwunden, sondern hat in den vergangenen drei Jahrzehnten neue Bedeutung gewonnen. Gewiss vor allem West-und Mitteleuropagibt es inzwischen eine glaubensferne Mehrheit aus Atheisten, Agnostiker und Glaubensfernen, die dem Glauben und den damit verbundenen überlieferten kirchlichen Symbolen und Riten nichts mehr abgewinnen können. Aber außerhalb unseres Kontinents hat die religiöse Bindung nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Die große Mehrheit der derzeit lebenden Menschen führt ein Leben in tiefer Gläubigkeit.  Die Gegenwart ist eine höchst glaubensproduktive Zeit, die aber bestimmt wird von einem schnellen religiösem Wandel, vielfältigen missionarischen Bewegungen und leider auch von vermehrten Religionskonflikten.

Schon immer haben Menschen ihre Heimat verlassen. Aber nie zuvor jedoch hat es vergleichbar viele Migranten gegeben wie heutzutage: Rund 200 Millionen Menschen leben dauerhaft in einem Land, in dem sie nicht geboren wurden. Migration verstärkt jedoch nicht die Säkularisierung sondern die religiösen Bindungen der betroffenen Menschen. Dies ist eine der grundlegenden Erkenntnisse aus den Forschungen der Religions- und Migrationsforscher. Auswanderung ist für die betroffenen Menschen immer äußerst riskant. Die Auswanderer brechen in eine unsichere Zukunft auf und klammern sich an die sie stärkende Stütze ihrer Religion. Die eigene Kirche oder Religionsgemeinschaft sorgt in einer neuen, und oft feindseligen Umgebung für die notwendige Stabilität und Identität.

Nicht wenige Menschen werden überhaupt erst durch die Migrationserfahrung fromm: Religion ermöglicht ihnen, eine Bindung an ihre Heimat, deren Kultur und Sitten zu pflegen und sich so ihre lebensgeschichtliche Kontinuität zu sichern.Die großen Glaubensgemeinschaften der Einwanderer in Nord- und Südamerika halfen den Neuankömmlingen dabei, ihren Weg in die jeweilige Gesellschaft zu finden. Das schafft einen besonders engen emotionalen Kontakt zu diesen Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempeln.

Die Religions- und Weltanschauuungskulturen des 21. Jahrhunderts leben in einer permanenten gesellschaftlichen Wechselwirkung. Das führt zu Konflikten zwischen den Religionen und zwischen den religiösen und a-religiösen Mitgliedern der Gesellschaft. Mehr Verschiedenheit bedeutet in aller Regel auch mehr Konflikt. In Europa sind es heutzutage vor allem die normativen Konflikte zwischen den Einzelgruppen und Communities in der Gesamtgesellschaft; die fortwährenden alltäglichen Kulturkämpfe über die Regeln des Zusammenlebens, die den weltanschaulichen Kampf über die Prinzipien einer „gelungenen Lebensführung“ innerhalb der Gesellschaft befeuern.

Vor diesem Gesamtzenario kämpft ein breit gefächertes religionsfeindliches Bündnis für die Beibehaltung des Neutralitätsgesetzes in Berlin-Brandenburg, obwohl das Bundesverfassungsgericht das Gesetz als verfassungswidrig eingestuft hat. Den Verteidigern des Gesetzes geht es in letzter Konsequenz um den Ausschluss der religiösen Praxis aus dem öffentlichen Raum. Als konsequente Umsetzung ihrer Ideologie wollen sie unterbinden, dass religiöses Leben in Berlin für andere erlebbar wird. Wo aber die Glaubensfreiheit gefährdet ist, steht es meist auch nicht gut um die Wahrnehmung anderer Menschen- und Freiheitsrechte.

Wissenswertes zum Neuen Atheismus

Neue atheistische Weltdeutungen erfuhren in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende öffentliche Resonanz. Dieser „Neue Atheismus“ wurde vor allem in Ländern und Gesellschaften zum Thema, die durch das abendländische Christentum geprägt worden sind. Insofern ist er ein Phänomen mit räumlich-kulturellen Begrenzungen. Seine Rezeption in anderen Kulturen und im Zusammenhang nichtchristlicher Religionen bedarf differenzierender Wahrnehmung. Selbst ein Land wie den Vereinigten Staaten, das durch eine besondere religiöse Vitalität gekennzeichnet ist, mehren sich zur Zeit atheistische Stimmen in der Öffentlichkeit.

Die kirchliche Festkultur eignet sich offensichtlich besonders gut für atheistischen Provokationen in der Öffentlichkeit. So  lautete vor den Osterfesten der letzten Jahre in einzelnen Städten Deutschlands die kämpferische Kampagne der Giordano Bruno Stiftung: „Austritt zum Hasenfest – kollektiver Kirchenaustritt Ostern“.

Ebenso war die Beschneidungsdebatte ein willkommener Anlass, sich mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein erneut religionskritisch zu Wort zu melden. Atheistische und humanistische Organisationen nutzten diese Gelegenheit, um auf die latente Gefährlichkeit jeder religiöser Praxis hinweisen zu können. Deshalb seien Kinder vor religiöser Beeinflussung d in Kindergarten, Schule aber gerade auch der Familie zu schützen. Bereits bei den britischen Protagonisten des Neuen Atheismus spielte diese Ablehnung der religiösen Erziehung eine zentrale ideologische Rolle.

So erschien im Jahre 2006  das Buch „Der Gotteswahn“ des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, in dem dieser sich gleich im Vorwort als Missionar des Atheismus vorstellt und darauf hofft, dass die Lektüre zum „Coming out“ vieler atheistischer Zeitgenossen beiträgt. Dawkins möchte erklärtermaßen aus Gläubigen Atheisten machen. „Wenn dieses Buch die von mir beabsichtigte Wirkung hat, werden Leser, die es als religiöse Menschen zur Hand genommen haben, es als Atheisten wieder zuschlagen“ (Berlin 2007, 18). Religion wird von ihm als krankhafter Wahn angesehen. Diese leitende These wird in diesem Buch aber nicht wissenschaftlich begründet oder denkerisch stichhaltig expliziert . Sie wird vielmehr vorausgesetzt und illustriert. Auf klassische philosophische Debatten über den Atheismus wird dabei kaum Bezug genommen.

Auch andere atheistische Organisationen in Deutschland greifen dieses Thema auf – so beispielsweise die Giordano Bruno Stiftung – der es um die Entwicklung eines naturalistischen Weltbildes und die Förderung eines Evolutionären Humanismus geht.

Schon bald aber traten neben die Akteure des Neuen Atheismus ihre Kritiker. Ihre Liste ist inzwischen lang geworden: Alister McGrath, Tina Beattie …, in Deutschland unter anderem Richard Schröder, Dirk Evers, Wolf Krötke, Ulrich H. J. Körtner, Gregor Maria Hoff, Armin Kreiner, Katharina Peetz …

Berliner Neutralitätsgesetz verfassungswidrig?

Das Berliner Neutralitätsgesetz verbietet Lehrern sowie Beamten, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, das Tragen sichtbarer religiöser Symbole wie Kopftuch, Kreuz oder Kippa. Das Gesetz wurde im Jahr 2005 verabschiedet – zwei Jahre nachdem das Bundesverfassungsgericht ein Kopftuchverbot für Lehrkräfte in das Ermessen der Bundesländer gestellt hatte Urteil vom 24.09.2003, Az. 2 BvR 1436/02. Im Jahr 2015 hat das Bundesverfassungsgericht seine 2003 ergangene Entscheidung nochmals präzisiert und ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrern für verfassungswidrig erklärt Beschluss vom 27.01.2015, Az. 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10. Jetzt muss in jedem konkreten Einzelfall geprüft werden, ob durch die religiöse Kleidung eine Gefahr für den Schulfrieden ausgeht.

Das Bild zeigt den Fernsehturm und Turm der Nikolaikirche in Berlin.
Fernsehturm und Turm der Nikolaikirche in Berlin.

Recht und Gesetz bestimmen die Grenzen

Gegen diese Entscheidung des obersten deutschen Gerichts wendet sich in Berlin nun ein breites, politisch meist links orientiertes Bündnis aus Religionskritikern, Islamfeinden, atheistischen Humanisten, Feministinnen und Pädagogen. Obwohl das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass das Neutralitätsgesetz das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verletzt, setzt sich die Berliner Initiative ganz bewusst über die rechtliche Schrankenkompetenz des Grundgesetzes hinweg. Die zum Teil besonders emotionale, ja geradezu heftige Auseinandersetzung um das umstrittene Gesetz dient ihnen vor allem zur gesellschaftlichen Durchsetzung eines fundamentalistisch verstandenen Laizismus.

Während von Migranten oft und gern ein Bekenntnis zu den Werten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlangt wird, nehmen sich diese Anhänger der säkularen Religionslosigkeit, getreu dem alten Sponti-Motto „legal, illegal, ganz egal“, selbstbewusst davon aus. Wie es für die Mitglieder einer Parallelgesellschaft typisch ist, stellen sie ihr eigenes, diesmal säkular-laizistisches Werteverständnis über das rechtliche Normenverständnis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Mit den Mitteln eines säkularen Kulturkampfes beanspruchen sie derzeit die Deutungshoheit über den öffentlichen und kulturellen Raum der Berliner Öffentlichkeit. Anhand der ideologischen Prärogativen ihres eigenen Weltbildes möchten sie den verfassungsmäßig garantierten Entfaltungsfreiraum für die Berliner Religionsgemeinschaften und ihre Gläubigen in der Zukunft merklich eingeschränkt wissen. Vor allem wegen dieses ideologischen Ziels kämpfen sie für den Fortbestand des verfassungswidrigen Neutralitätsgesetzes.

Bild zeigt die begehbare, gläserne Kuppel über dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin als Sinnbild einer fasettenreichen Bürgergesellschaft.
Sinnbild einer facettenreichen Bürgergesellschaft – Die begehbare, gläserne Kuppel über dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin.

Trennung von Staat und Religion

Die Trennung von Staat und Religion ist eine mehrheitlich unbestrittene, wichtige Errungenschaft der demokratisch verfassten westlichen Moderne. Die strukturell gebotene Säkularität des modernen Verfassungsstaates garantiert seine Neutralität gegenüber den weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen seiner Bürger. Dies ist kein in all seinen Aspekten endgültig limitierter oder abgeschlossener Zustand. Deshalb werden die rechtlichen Grenzen des Religiösen in der modernen und postmodernen Gesellschaft immer wieder neu ausgehandelt. Insofern gibt es zwischen dem deutschem Staat und den in Deutschland vertretenen Religionsgemeinschaften immer wieder rechtlich regelungsoffene Punkte, die wegen einer neuen gesellschaftlichen Situation und Konstellation neu verhandelt werden müssen.

Dabei sind jedoch der gleichermaßen für religiöse wie für religionslose Bürger gesetzte Aktionsrahmen und die Möglichkeiten des Bundes und der Länder, hierein durch rechtliche Regelungen einzugreifen, durch die Normen der Grundrechts-garantien im Grundgesetz einschränkt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes handelt es sich bei den Grundrechten um Schutz-schranken, die gerade Minderheiten in der Ausübung ihrer Grund- und Menschenrechte schützen sollen. So definiert sich der religiöse wie auch der areligiöse Freiraum durch die Schutzschranken der Bestimmungen von Artikel 1 bis 20 GG. Die Religionsfreiheit  garantiert Artikel 4 GG. Nach dem vorgegebenen Verfassungsrahmen herrscht in der Bundesrepublik Deutschland entgegen aller radikal-säkularen Wunschvorstellungen kein grundsätzlich laizistisches Verständnis der Trennung von Staat und Kirche wie etwa in Frankreich. Nicht der öffentliche Raum als Gestaltungsfreiraum aller Bürger, nur der Staat selbst, also Legislative, Exekutive und Judikative müssen in religiösen Dingen neutral sein und dementsprechend auftreten. Als Ergebnis der Regelungsvorgaben aus der deutschen Verfassung versteht sich der deutsche Staat gegenüber den Religionen als kooperativ. Das heißt, der  Staat tritt ihnen gegenüber offen und zugewandt auf und ist an Synergie-Effekten durchaus interessiert. Die Bürger, ob religiös, areligiös oder antireligiös, werden alle gleichermaßen in ihren weltanschaulichen Grundhaltungen geschützt und respektiert. Das gilt auch uneingeschränkt und ohne Ausnahme für die Gläubigen der in Berlin vertretenen Religionsgemeinschaften.

Das Bild zeigt zwei thailändische Tempeltänzer. Bildkommentar: "Clash of Civilizations" in Berlin: Ideologischer Konflikt der Säkularen mit der Minderheit der Religiösen.
„Clash of Civilizations“ in Berlin: Ideologischer Konflikt der Säkularen mit der Minderheit der Religiösen.

Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Anspruch von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben.

Der freiheitliche, demokratische Verfassungsstaat muss geistige Heimstatt aller seiner Bürger unabhängig von ihren jeweiligen Weltanschauungen sein.

Dies kann er aber nur, wenn er alle Bürger gleichbehandelt, da er selbst weltanschaulich neutral bleibt.

Es gibt keinen Anspruch von der Religionsausübung anderer verschont zu bleiben

Vor drei Jahren haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe deshalb  ihr Verständnis zur Religions- und Bekenntnisfreiheit noch einmal unmissverständlich klargestellt: „Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben. Wenn der Gesetzgeber die Grundrechte von christlichen, jüdischen oder muslimischen  Lehrern an öffentlichen Schulen einschränkt, muss er die konkrete Gefährdungslage, die durch die öffentliche Religionspraxis in Worten oder durch Symbole für die öffentliche Ordnung oder die Rechte anderer Bürger ausgeht, schlüssig und rechtsüberprüfbar darlegen und begründen.“

Die Religion ist in unserer Gesellschaft nicht endgültig verschwunden. Und das gilt nicht für die in unserer Mitte lebende muslimische Minderheit. Religion unterdrücken zu wollen ist etwa so, als wollte man die Sexualität unterdrücken – es bleibt letztendlich ein sinnloses Unterfangen. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich nach dem Scheitern der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts die Religion erneut zurückgemeldet hat.

Die gegenwärtige Religionsfeindlichkeit ist eine Reaktion auf diesen Umschwung. In einer zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer stärker an einer Wiederherstellung der Werte- und Sinngebung interessierten Gesellschaft könnte sich die heute dominante Säkularisierung durchaus noch nur als eine gesellschafts-politische Episode erweisen. So wird die bisherige Dominanz der Säkularität durchaus hinterfragt und ist in der Zukunft vielleicht sogar gefährdet. Die Säkularisierung, wie wir sie kennen, befindet sich auf dem Rückzug. Das Ergebnis ist ein missionarischer Atheismus, wie es ihn seit viktorianischen Zeiten nicht mehr gegeben hat.

Diese Entwicklung wird vor allem in Großbrittanien greifbar. Dort ist ein geradezu dominant-atheistisch Klima in sehr viele Lebensbereiche vorgedrungen. So war einer Angestellte von British Airways und einer Krankenwester verboten worden, ein Kreuz als Zeichen ihres Glaubens während der Arbeitszeit um den Hals zu tragen. Als Grund wurden die Haus-Regeln über Schmuck etc. zitiert.Die Flugbegleiterin Nadia Eweida  sieht das Kreuz aber nicht als Schmuck, sondern als Bekenntnis ihres Glaubens und ist daraufhin vor den Menschenrechtsgerichtshof gezogen.Das Ganze ist heute zwar schon einige Zeit her, aber irgendwie bleibt dieser Fall doch geradezu exemplarisch neben all den anderen kleinen Fällen für die ideologisch motivierte Durchsetzung militanter Forderungen nach einer religionsfreien und damit am Ende religionslosen Öffentlichkeit. Auch aus anderen europäischen Ländern lassen sich inzwischen ähnliche Bespiele nennen. So ist man im laizistisch geprägten Frankreich gegen Kreuz, Kopftuch oder Kippa, in der Schweiz gegen Minarette. Stück für Stück werden die Zeichen von Religion aus dem Alltagsleben und damit aus der Wahrnehmung der Menschen verdrängt.

Aber zu glauben funktioniert nicht allein im menschlichen Innenleben, auf das geistige Individuum und auf seinen Privatbereich beschränkt. Glauben will sich zeigen; will anstecken und weitergegeben werden. Das Problem ist, dass viele das nicht wollen. Sie sehen in der Religion eine grundsätzliche Gefahr. Der Traum der Gegner jeder öffentlichen Form von Religion ist ein Verschonungspluralismus: Du lässt mich in Ruhe, ich lasse dich in Ruhe. Jede Form von überzeugter Konsequenz soll aus dem gesellschaftlich sichtbaren Leben getilgt werden. Jedes Individuum soll befreit leben von Einflüssen von Anderen. Das ist die laizistische Vorstellung von Freiheit, die hinter der Gegnerschaft gegen religiöse Symbole steckt. Aber Freiheit in einer demokratischen Bürgergesellschaft ist nicht ohne die individuelle Konsequenz einer Zumutung der Sichtbarkeit andersgearter Lebensentwürfe zu haben. Diese Freiheit braucht unabdingbar den Freiraum der Lebensgestaltung, die sich für religiöse Menschen auch in der Sichtbarkeit von Religion ausdrückt.

Gegenüber der Ideologie radikaler Säkularität und Laizität hat der neuzeitliche moderne Verfassungsstaat die selbe Neutralität zu wahren, wie gegenüber den klassischen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Selbst wenn sich große Teile der Bevölkerung inzwischen als konfessionslos begreifen, darf der demokratische Verfassungsstaat deshalb die Vorstellungen einer radikalen laizistischen Politreligion nicht zur Staatsdoktrin erheben. Genau diese Staatsdoktrin erträumen sich aber die Protagonisten der Berliner Initiative.

Bei Religion geht es immer um den existenziellen Freiraum zur Beantwortung der großen transzendentalen Fragen des Menschseins. Gelebter Glaube eröffnet  erst den bewußten Deutungs- und Ausdrucksfreiraum. Religion tritt uns zwar zuerst als ein seelisches Geschehen im Inneren des Menschen entgegen. Sein Herz und seine Seele wird von etwas berührt, das nicht sichtbar ist. Aber Religion tritt uns auch von außen als Kirchengebäude, in Gottesdiensten, Wallfahrten und verschiedenen Riten entgegen.Dort entfalten sie überhaupt erst ihre Präge- und Bindekraft. Deshalb ist ein religiös verstandener Freiraum immer auch ein freiheitlicher Aktivraum für die Glaubenspraxis. Gegen diesen wendet sich der nach atheistischer Deutungsdominanz strebender Berliner Verschonungspluralismus, der zur Durchsetzung seiner radikalen Laizität mit deutlich erkennbaren Usurpationstendenzen des öffentlichen Wahrnehmungsraums agiert. Dabei wäre es heutzutage gerade in einer religiös und weltanschaulich pluraler werdenden deutschen Gesellschaft besonders sinnvoll die Entwicklung zur gegenseitigen Dialogfähigkeit zu fördern. Dies gilt nicht nur allein mit Hinblick auf die notwendigen gesellschaftlichen Diskurse über den Platz des homo religiosus im Kontext der demokratischen Moderne.

Ein sprechendes Beispiel für die bleibende Relevanz der Religion für das Gelingen einer freiheitlichen demokratischen Bürgergesellschaft wird unter anderem in der aktuellen Disskussion um die Abschaffung des arbeitsfreien Sonntags deutlich. In Deutschland wird er als ein letztes Refugium vor dem allumfassenden Zugriffswünschen der Ökonomie seit Jahren in der öffentlich infrage gestellt. Er ist Frei-Zeit und Frei-Raum für Geist, Seele und Körper. Er ist geheiligte Zeit, also Freizeit und Freiraum für Gottesdienst und zwischenmenschliche Gemeinsamkeit. Er ist ein gemeinsamer zwischenmenschlicher Freiraum, der unter der Woche nur schwer zu finden ist, wenn Beruf, Schule und andere Verpflichtungen in der Familie und unter Freunden dominieren. So ist der Sonntag bei näherem hinsehen weit mehr als nur ein christlicher Feiertag: Er bietet Freiräume für den Einzelnen, Zeit für die Familie und Freunde; er ist Zeit für Muße und Reflexion. Das geht aber nur, wenn der Sonntag ein gemeinsamer Tag der Ruhe bleibt und nicht in beliebig viele individuelle freie Tage aufgeteilt wird. Der Sonntag ist deshalb der christliche Erbe des jüdischen Sabbatgedankens. Er ist ein Tag der gemeinsamen Zeit – mit Gott und für den Mitmenschen. Er ist deshalb ein wichtiges Symbol gegen die Ökonomisierung des gesamten Lebens. Der Sonntag macht deutlich, dass es im Leben des Menschen mehr gibt als die Anhäufung von Geld. Der christliche Sonntag ist nicht nur eine störende Unterbrechung der wöchentlichen Arbeitszeit: Er ist ein Zufluchtsort des Menschlichen gegen die Allmacht des Kommerz, er bleibt ein Stolperstein gegen die Wahrnehmung des Menschen nur noch nach den Kategorien der wirtschaftlichen Nützlichkeit. Er ist ein Appell des menschlichen Seins gegen das ökonomische Habenwollens.

Das Bild zeigt eine moderne Porzellanfigur des Berliner Bären. Er steht für Toleranz in der Bundeshauptstadt. Bildkommentar: Keep calm smile an be tolerant.
Keep calm smile an be tolerant.

Werte und Grundfreiheiten in einer freiheitlichen Gesellschaft

Unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung wird durch die Akzeptanz gemeinsamer Werte und Grundfreiheiten sowie von allgemein geltenden Rechten und Pflichten zusammengehalten, wie sie in den Artikeln 1 bis 20 unseres Grundgesetzes festgehalten finden. Die einzelnen Menschen eignen sich diese grundlegende Orientierung auf sehr unterschiedliche Weise an. Das beginnt im Elternhaus und in der Familie, verläuft dann weiter in Kindergärten, Kitas und Schulen, in Vereinen, im Freundeskreis und während des späteren Bildungs- und Berufswegs.  Überall werden unsere Grund-orientierungen geformt und beeinflusst.

Für gläubige Menschen sind es nach Eltern und Familie vor allem ihre Religionsgemeinschaften und deren Glaubensvorstellungen, die in besonderer Weise sinn- und orientierungsstiftend sind. Deshalb kann Religionsfreiheit nicht nur eine bloße Glaubens- und Meinungsfreiheit bedeuten. Nicht nur ungehinderten privaten und öffentlichen Gottesdienst, sondern vor allem auch die Freiheit des verbalen und nonverbalen Glaubensbekenntnisses in allen gesellschaftlichen Gruppenvollzügen, an denen die Gläubigen in der Zivilgesellschaft teilnehmen.

Vollkommen frei sind wir nie, aber immer freier können wir werden…

Der demokratische Freiheitsbegriff hat sich aus der attischen Gesellschaft über die französische Revolution bis hin zur Einrichtung der Europäischen Union immer weiter fortentwickelt und dabei entfaltet. Wie die Freiheit, so ist auch die Demokratie ein Wert, der gesellschaftlich kontinuierlich entfaltet und bewahrt werden muss. So sagte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und auf säkularisierter Ebene in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ Der freiheitliche Gestaltungsspielraum der Bürger muss deshalb im modernen demokratischen Verfassungssstaat beständig so vervollkommnet werden, dass sowohl das Recht aller, wie auch die Bedürfnisse einzelner miteinander in den für das Gemeinwesen notwendigen Einklang zueinander stehen. Was uns miteinander verbindet, ist unsere Vergangenheit. Vor allem aber verbindet uns unsere gemeinsame Zukunft, die wir miteinander noch gestalten müssen. Eine aufregende Zukunft, für die es die positiven Vorzeichen einer entwickelten freiheitlichen Bürgergesellschat, aber auch negative Warnsignale wie Populismus und religiösen oder ideologischen Fundamentalismus, die das Gemeinschaftsprojekt unsserer Freiheit zunichtemachen könnten.

Der freiheitliche, demokratische Verfassungsstaat muss die geistige Heimstatt aller seiner Bürger sein – unabhängig von ihren jeweiligen Weltanschauungen. Dies kann er aber nur, wenn er alle unabhängig von demographischen Mehr- und Minderheitsgruppen gleichbehandelt und selbst weltanschaulich neutral bleibt.

Dieser Leitsatz des Verfassungsgerichts aus den 1960er Jahren bleibt auch angesichts eines wachsenden Anteils der Religions- und Konfessionslosen in der deutschen Gesellschaft weiterhin gültig. Nicht eine möglichst umfassend durchgesetzte Laizität und Areligiosität, sondern Toleranz und Interessenausgleich werden sich als ein auch zukünftig tragfähiges Konzept einer offenen und demokratischen Gesellschaft erweisen.

Deshalb ist es gerade jetzt an der Zeit, dass die Religionsgemeinschaften in Berlin, die jüdische Gemeinde, die islamischen Verbände und die christlichen Kirchen gemeinsam ihre Stimme erheben, um für den Freiraum ihrer öffentlichen Glaubensausübung zu streiten.

Bild zeigt ein Kreuz an der Wurzel des keimenden Weizenpflanze. Bildunterschrift: Glauben ist das Salz der Erde.
Glauben ist das Salz der Erde.

„Ich glaube, um das Salz der Erde und das Licht der Welt zu sein, müssen die Laien das Evangelium überall verbreiten, einschließlich der Bereiche der Wirtschaft, der Politik und des Sozialen, wozu uns die Enzyklika Caritas in Veritate von Papst Benedikt XVI. und die jüngste Synode für Afrika einladen“.

Bischof Nicodème Anani Barrigah-Benissan.

Bischof Nicodème Anani Barrigah-Benissan ist seit März 2008 katholischer Bischof von Atakpamé im Norden Togos. Barrigah-Benissan leitet die bischöfliche Kommission für Gerechtigkeit und Frieden des westafrikanischen Landes. Als sich die Togolesen in einer Volksbefragung dafür aussprachen, dass ein Geistlicher die staatliche Kommission zur Aufarbeitung der Verbrechen während der Gewaltherrschaft von Ex-Präsident Étienne Gnassingbé Eyadéma übernehmen sollte, schlugen viele Bischof Barrigah-Benissan als geeigneten Kandidaten vor. Im Jahre 2009 übernahm er deshalb den Vorsitz der staatlichen Kommission Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung.

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