Die Getränkehändlerin – Heldin des Alltags

Schneller, immer schneller dreht sich die Welt. Das Arbeitsleben unterliegt dem digitalen Wandel. Wer sich nicht anpasst, bleibt auf der Strecke. Die Getränkehändlerin kümmert das nicht.

Jeden Morgen, außer sonntags, holt sie kurz vor neun Uhr die Tageszeitung aus dem Briefkasten, schließt ihren Laden auf, schaltet die Neonröhren im Schaufenster an, dann die Kasse auf dem alten Holztisch. Ihre Winterjacke tauscht sie mit dem blauen Schürzel, der in der kleinen Toilette am Haken hängt, darüber zieht sie eine blaue Wolljacke. Es ist kalt hier, 60 Quadratmeter Altbau, aufgeteilt in drei Zimmer, denen sie seit 36 Jahren Leben einhaucht.

Die Getränkehändlerin sperrt die Türe auf, holt die Zeitung aus dem Briefkasten
Jeden Tag dieselben Handgriffe – Routine. (Foto: B. Tacke)

Im früheren Arbeiterviertel von München herrscht hektische Betriebsamkeit. Autos, breit und teuer, schlängeln sich durch die mit Baugerüsten zugestellten engen Straßen. Die Häuser, die bis jetzt noch nicht grundsaniert wurden, sind hinter Planen versteckt und warten darauf, sich – aufgehübscht und in Teileigentum zerlegt – wieder zu zeigen. „Erbhäuser halt“, sagt die Getränkehändlerin, „die Alte ganga und die Neue kimma“.

Stapeln und Kopfrechnen

Sie klappt das grüne Wollkissen auf dem Holzstuhl hoch, steigt auf den Stuhl und öffnet mit Schwung das Oberlicht des Altbaufensters. Frisch und klar, wie ein Herbsttag, riecht es. Überhaupt nicht nach abgestandenem Bier, obwohl das Leergut, in dem vielleicht immer noch ein Rest Bier schwimmt, im hinteren Raum gestapelt steht. Richtiges Lüften ist ihr wichtig.
Die Getränkehändlerin schiebt die mannshohen Kästentürme gekonnt Richtung Tür. Mittwochs kommt der Fahrer vom Getränkegroßhandel für Wasser, Saft und Bier – außer fürs Augustiner, da kommt der Fahrer freitags. Bestückt mit zwei Kästen Leergut geht es über die ausgetretenen Steinstufen hinaus auf den Gehweg. Die Zwanziger-, Zwölfer- und Sechser-Kästen werden links und rechts von der Türe wieder zu Türmen aufeinandergestapelt. Am besten immer zu vier Kästen, dann geht das Kopfrechnen fürs Pfand schneller. Zwanziger-Kasten zu 3,10 Euro, Zwanziger mit Bügelverschluß zu 4,50 Euro, Zwölfer Wasser und Zwölfer-Glasflaschen zu 3,30 Euro. Nur der Splitträger ist am teuersten: 4,80 Euro – wahrscheinlich weil er so kundenfreundlich ist.

Stapel von Getränkekästen, die Getränkehändlerin beim Abkassieren, das Kaltgetränk Club Mate
Viele Kästen hat sie in ihrem Leben schon hin und her geschoben, umgeschichtet, befüllt, abkassiert. (Foto: B. Tacke)

„Viel gred ham meine Eltern net.“ Der Vater hat zwei Weltkriege miterlebt und stammt aus einer kleinen Landwirtschaft in Niederbayern. Da er nicht der Erstgeborene war, musste er sich außerhalb eine Arbeit suchen. Die Mutter, eine Oberbayerin, 13 Jahre jünger, hat sich als Hauswirtschafterin verdingt. Die Getränkehändlerin kann sich nur an wenige Stationen ihrer Kindheit erinnern. Zu viele Umzüge, doch das Schloss Amerang und vor allem die Rennbahn in Daglfing sind präsent. Die Eltern hatten dort die Landwirtschaft übernommen und sie und ihre drei Geschwister halfen in den Stallungen der Rennbahn. Mit 15 Jahren hat sie eine Lehre zur Köchin beim Dallmayr in der Dienerstraße in München angefangen. „Beim Dallmayr wird heit no um 9.30 Uhr aufgsperrt, do hat se nix verändert.“ Die Ausbildung war eine harte Zeit und ein Teil des Lohns musste die Getränkehändlerin fürs Wohnen und Essen an die Eltern abgeben. „Wenns heiratest, gibst des Geld wieda“, in Form der Mitgift.

„Wir kennen uns nicht, aber ich bewundere sie.“

„Bei Ihnen ist es wie im Beichtstuhl, nur ohne Buße,“ sagt ein Kundin. „Ich komm nur wegen Ihnen,“ sagt ein anderer. Sogar Till Hofmann, der König der Kleinkunstbühnen in München, Betreiber der Lach- und Schießgesellschaft hat unter @SZ_Muenchen getwittert: „Wir kennen uns nicht, aber ich bewundere sie.“ Warum schwärmen all diese Menschen, mich eingenommen, für meine Getränkehändlerin? Es ist ihre Authentizität.

Die amerikanischen Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman beschreiben eine als „authentisch“ bezeichnete Person in ihrer Wirkung als besonders „echt“. Sie vermittelt ein Bild von sich, das beim Betrachter als real, urwüchsig, unverbogen, ungekünstelt wahrgenommen wird. Sie ist keine Eigenschaft eines Menschen, sondern ein Urteil Dritter; Authentizität ist ein Etikett, das einer Person angeheftet wird oder eben nicht. Man kann es sich nicht selbst anheften – der Versuch macht unauthentisch.

Postkarten und Fotografien von Münchner Straßenszenen an der Wand, ein Gesteck aus Tannenzweigen und Misteln auf dem Fensterbrett, die Deutschlandfahne und ein Hufeisen im Fensterrahmen
Liebevoll gestaltet wird es selbst zwischen den Getränkekästen wohnlich. (Foto: B. Tacke)

Meine Getränkehändlerin gestaltet ihren Laden mit viel Liebe und eigenen Vorlieben. An den Wänden hängen Fotografien vom Straßenkehrer und Fotografen Frank Eydner (Franky), Schwarz-Weiß-Fotografien von München damals und heute, gemalte Kalenderblätter aus Brauereikalendern mit Bayernmotiven, die Deutschlandfahne, ein Hufeisen. Im Sommer stehen draußen Geranien auf den Fensterbänken, im Winter Gestecke aus Zweigen und Misteln. Werbeplakate von trendigen Hipstergetränken sucht man hier vergebens.

Die Schaltzentrale des Lebens

Sie hat keine Webseite, keinen Facebook-Eintrag, kein Handy. Mit ihrem waldgrünen Tastentelefon mit Festnetzanschluß, das auf ihrem kleinen Schreibtisch im mittleren Zimmer steht, händelt sie alle Bestellungen, Liefertermine und Kundenwünsche. Hier ist die Schaltzentrale ihres Lebens, der Raum ist Büro, Küche, Speisekammer und Lager in einem.

Büroplatz mit roter Tischdecke, der Herrgottswinkel, Speisekammer auf dem Fensterbrett
Der Herrgott wacht über alles. (Foto:B. Tacke)

„Es ist hart verdientes Geld – drum hab i die Arbeiterhänd.“ Unter Urlaub versteht sie immer nur Drei-Tages-Touren: in die Berge zum Wandern, Städtetouren nach Wien oder Rom; am liebsten eine Kombination aus Berg und Stadt. Die Arbeit macht ihr Spaß. „I bin fast immer im Laden, des is mei Heimat.“ Ihre Kundschaft hat sie sich erarbeitet und erzogen. Manche stellen morgens ihren leeren Korb in den Laden und holen ihn abends gefüllt wieder ab. „Liefern du i net.“ Sie sieht es als ein Geben und Nehmen.

„Wie immer, bitte.“

Die Ladenglocke bimmelt. Raphael, der Friseur, im angesagten Camouflage-Parka und sein Mops Christel kommen herein. „Wie immer, bitte.“ Sie tauscht das Leergut mit den drei Flaschen St. Leonhards Wasser, für die anspruchsvolle Friseurkundschaft und den zwei Flaschen Augustiner, Feierabendbier, für ihn und seinen Freund Michael. „4,30 Euro.“ Zum Abschied krault sie Christel ausgiebig am Rücken „Da mog ses am liabsta“. Vor der Tür frage ich Raphael, warum er nicht in einen der vielen Supermärkte in der Nähe geht. „Ich komme gerne hierher, es gehört für mich zu meinem Alltag. Die Getränkehändlerin ist interessant, urig. Wenn Zeit ist, ratschen wir über unser Viertel. Der Laden ist mein Ruheort, hier verändert sich nichts.“

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