Interview mit Sabine Simon

Leitung der Schwangerschaftsberatung

 

„Wir geben nicht nur in dieser Arbeit, wir erhalten wirklich viel zurück“

Haben Menschen, die sich bei Ihnen beraten lassen, heute andere Sorgen und Fragen als früher?
Ja und Nein. Nein, weil es heute wie früher allen Schwangeren und ihren Partnern darum geht, gute Rahmenbedingungen für das Leben mit Kind zu schaffen, trotz geringer sozialer oder finanzieller Ressourcen. Wenn es um eine ungeplante Schwangerschaft und um die Erwägung eines Abbruchs geht, sind die Themen ähnlich wie früher: der fehlende Partner, die unsichere berufliche wie finanzielle Zukunft, die Angst vor der Verantwortung.

Ja, weil die Scham, unverheiratet Mutter zu werden, viel seltener als früher Grund für einen Schwangerschaftsabbruch ist. Heute beraten wir häufiger zum frühen Wiedereinstieg in den Beruf nach einer kurzen Elternzeit. Weitere Themen sind die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Wohnungs- und Kitaplatznot in München, die komplizierten Regelungen zum Elterngeld und existenzsichernde Sozialleistungen. Hinzu kommen Beratungen rund um die Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik, Spätabbruch oder Totgeburten.

Die Beratungen von Frauen und Männern mit Migrations- und Fluchthintergrund nahmen in den letzten zehn Jahren zu. Migrations- und kulturspezifische Fragestellungen behandeln wir kultursensibel, oft mit Hilfe von Dolmetscher*innen. Auch die Beratung von Hörbehinderten nahm zu, weil wir hier ein sehr breites Angebot entwickelt haben.

Wie begegnen Sie den Ängsten von Schwangeren?
Je nach Bedarf informieren wir über gesetzliche Ansprüche, finanzielle Leistungen, soziale und gesundheitsbezogene Hilfsangebote. Wir vermitteln konkrete Unterstützungsleistungen wie Stiftungsmittel für die Babyausstattung. Wir setzen uns mit dem Jobcenter in Verbindung und helfen bei Anträgen. In anderen Fällen begleiten wir die Frauen und Paare über mehrere Monate oder Jahre. Regelmäßig kommen sie mit ihren Themen zu uns. Das können psychische Krisen, Partnerschaftskrisen oder existenzielle Nöte sein. In Einzelfällen bieten wir eine individuelle Geburtsvorbereitung an, die besondere Bedarfe und Traumata berücksichtigt. Leider können wir vielen Schwangeren nicht mehr die Sorge nehmen, dass ihr Kind die ersten Lebensjahre unter zu engen und gesundheitsgefährdenden Wohnbedingungen verbringen muss. Die medizinische Versorgung hat sich verschlechtert. Heute werden Schwangere oft von einer Entbindungsklinik zur anderen verwiesen, Nachsorgehebammen sind kaum noch  zu finden, genau wie ein Kinderarzt in Wohnortnähe.

Welche Hilfsangebote bietet das ebz für alleinstehende Schwangere, die ihr Kind bekommen wollen?
Alleinstehende Schwangere können sich bei uns informieren, welche staatlichen Unterstützungsleistungen ihnen zustehen und welche Rechte sie haben. Bei Bedarf helfen wir ihnen, ihre Ansprüche gegenüber Arbeitgebern, dem Kindsvater und Behörden durchzusetzen. Wir vermitteln notwendige Adressen für Tagesmütter, Welcome Service, spezielle Geburtsvorbereitungskurse sowie Vernetzungsmöglichkeiten.

Wie beraten Sie schwangere Jugendliche, die ihre Eltern nicht informieren?
Ungeplante Schwangerschaften kommen nicht mehr so häufig vor wie früher, weil Jugendliche heute besser verhüten. Den Impuls, eine ungewollte Schwangerschaft vor den Eltern zu verheimlichen, haben aus unserer Erfahrung nur noch Jugendliche aus streng religiösen Elternhäusern, in denen Sex vor der Ehe tabu ist. Wir beraten sie vertraulich, auch wenn es um einen Abbruch geht. Die Eltern erfahren von uns nichts. Einen Schwangerschaftsabbruch können 16-Jährige ohne Wissen der Eltern durchführen lassen. Jugendliche Schwangere begleiten wir über die Geburt hinaus in allen Fragen. Wenn nötig, organisieren wir den Kontakt zum Jugendamt oder zu einer Jugendschutzstelle.

Wie schaffen Sie es bei hoher Belastung einfühlsam zu bleiben?
Durch achtsames Arbeiten, Selbstreflektion, Austausch im Team und qualifizierte Supervision. Unsere Arbeit und unsere Themen sind nicht nur belastend. Denn wir arbeiten mit Menschen, die uns in aller Regel voller Vertrauen und Hoffnung begegnen. Sie gewähren uns intime Einblicke in ihre Welt. Das führt immer wieder zu berührenden und sogar zu stärkenden Momenten. Wir geben nicht nur, wir erhalten auch viel zurück. Das freut uns und gibt uns Kraft für die nächste einfühlsame Beratung.

„Begegnungen zwischen Himmel und Erde“ ist das Motto Ihres Jubiläums. Welche Rolle spielen Religion und Spiritualität in der Schwangerschaftsberatung?
Sie spielen sehr häufig eine Rolle, manchmal positiv, aber auch negativ. Einfach weil Schwangerschaft ein ganz eigenes, einzigartiges Lebensverhältnis ist. Sie läutet einen Übergang in eine neue Zeit ein, kann sogar mit dem Tod enden. Das führt Menschen schnell an ihre spirituellen und religiösen Wurzeln. Wenn ein Paar über den Abschied von seinem totgeborenen Kind spricht, kommt die Frage auf, ob Glaube bei der Trauer helfen kann und welche Rituale es gibt. Wenn sich eine Frau für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, kann ihr die Religion manchmal keinen Trost und keine Hilfe bieten, weil sie Vorwürfe und Verdammnis befürchtet.
Wir sind aufgrund unserer interkulturellen Ausrichtung mit verschiedenen Formen von spirituellen Fragen und Antworten konfrontiert. So irritiert es uns nicht, wenn eine indonesische Klientin erst einmal ihre Ahnen befragen muss oder eine nigerianische Frau von dem ihr auferlegten bösen Zauber berichtet. Wir maßen uns dabei niemals an, zu wissen, welche Religion oder spirituelle Richtung die richtige ist. Entscheidend ist, ob der Glaube für die Ratsuchenden eine stärkende Ressource in Krisenzeiten darstellt.

Porträt Sabine Simon

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