Interview mit Pfarrerin Gerborg Drescher

Vorstand Evangelisches Beratungszentrum München e.V.

 

„Wenn es um neue Beratungskonzepte und Projekte geht, sind wir stets führend“

60 Jahre ebz – Welche Aufgaben hat Ihre Organisation zu Zeiten der Gründung übernommen?
Zu Beginn nahmen Helfer die Not von Menschen wahr und suchten Wege diese zu lindern. Die Mitarbeitenden im Evangelischen Beratungszentrum reagieren auch heute auf Veränderungen in der Gesellschaft und entwickeln neue Beratungskonzepte.
Geeignete Hilfe war für Kinder und Ehepaare nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend. Genauso wichtig ist individuelle Beratung für Kinder psychisch kranker Eltern und Migranten mit dem Wunsch nach Sexualaufklärung heute.

Wie hat sich die Beratungsarbeit verändert?
Die Menschen, die uns auf verschiedenen Wegen kontaktieren, haben sich verändert. Viele Ratsuchende haben langjährige Therapieerfahrung und kommen mit psychiatrischen Diagnosen. Das bedeutet, dass wir sehr vernetzt mit anderen Hilfeeinrichtungen arbeiten müssen. Aufgrund der vielen Anfragen können wir nur kürzere Begleitungen leisten.
Auch die Beratungsansätze haben sich geändert. Wir setzen auf eine lösungs- und ressourcenorientierte Beratung, die den Klienten auf Augenhöhe begegnet. Unsere Mitarbeitenden müssen lenkend eingreifen, um die ausgeprägten Konflikte einiger Paare zu lösen. Das gilt vor allem, wenn es um das Umgangs- und Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder geht. Uns bewegen in erster Linie die Sorgen der Menschen in München: Kann ich meine Wohnung noch bezahlen? Wie gehe ich als Single mit Einsamkeit um? Wie wollen wir als Familie leben bei der Vielfalt der Familienmodelle? Kann ich es mir leisten, als junger Erwachsener auszuziehen? Immer wieder suchen wir nach neuen Wegen, niederschwellig für die Menschen da zu sein. Wir versuchen so früh wie möglich Menschen zu erreichen. Wir gehen in Kinderkrippen und Kindertagesstätten und unterstützen Kinder und ihre Eltern. Uns ist wichtig, die Beratungsarbeit so zu gestalten, dass sie auch für Migrant*innen zugänglich ist.

Wo sehen Sie die Stärken des ebz?
Das ebz ist nach 60 Jahren immer noch jung und flexibel. Durch ständige Fortbildung und qualitätssichernde Supervision können wir uns als Beraterteam gezielt weiterentwickeln. Zusammen mit den Menschen finden wir Lösungen. Wenn es um neue Beratungskonzepte und Projekte geht, sind wir dadurch stets führend. Wir probieren modellhaft regelmäßig Neues aus – mit Erfolg: sexualpädagogische Workshops für Migrantinnen und neuerdings auch für Migranten oder eine Gruppe für Eltern von Kindern, die gemobbt werden. Derzeit entwickeln wir Kommunikationstrainings für gehörlose Paare.

Von welcher Seite wünschen Sie sich mehr Unterstützung?
Unsere Wartezeiten sind zu lang. Menschen müssen mehrfach bei der Telefonseelsorge anrufen, um durchzukommen. Wir könnten auch mehr Chats anbieten. Unser Beratungszentrum wird über Zuschüsse finanziert. Damit sind unsere Ressourcen sehr begrenzt, und wir sind froh, den Standard halten zu können. Wir tragen oft dazu bei, dass Menschen in der Gesellschaft verbleiben und ihre Arbeit behalten können. Klinikaufenthalte und ein Abrutschen in die Sozialsysteme sind teurer als Beratungsarbeit. Das sind politische Fragen. Dankbar sind wir für die Unterstützung der Landeshauptstadt München, der Regierung und der Kirche für deren Begleitung und Suche nach Möglichkeiten – sofern sich welche finden lassen.

Was war für Sie in Ihrer Arbeit der schönste Moment?
Der schönste Moment ist für mich immer wieder, wenn Menschen nach einer Beratung, Supervision oder Fortbildung sagen: Ich bin gereift, ich bin freier geworden.

Was bedeutet für Sie „Begegnungen zwischen Himmel und Erde“?
Eine wichtige Ebene des Beratungsgesprächs ist die Beziehung zwischen Berater*in und Klient*in. Nach meinem Empfinden ist aber noch eine weitere Ebene mit im Spiel: Gott, das Göttliche, die Transzendenz, wie immer Sie das bezeichnen wollen. Die Beratung ist für mich ein Dreiecksgeschehen zwischen mir als Beraterin, der Klient*in und Gott. In der Pastoralpsychologie können wir auch ganz offen über diese Themen sprechen. Wir erleben in den Gruppen, wie Teilnehmende plötzlich spüren, dass sie aufgehoben sind. Sie fühlen sich begleitet und mit den liebevollen Augen Gottes angesehen. Das erweitert die eigenen Möglichkeiten und erdet das Leben auf eine neue Weise. Wer sich so in der Begegnung zwischen Himmel und Erde gehalten weiß, braucht im Leben und im Letzten keine Angst zu haben, ist nicht erpressbar, sondern frei.

Porträt Gerborg Drescher

Porträt und Interview mit Gerborg Drescher als PDF