No Gain but Pain – Der wilde Wahnsinn ist vorbei

Der Himmel ist grau. Es ist Montag. Eine Stadt steht still. Der Duft nach gebrannten Mandeln und heißer Bratwurst hat sich in kalte Luft aufgelöst.

Der Himmel ist grau. Es ist Mittwoch. Eine Stadt bewegt sich in Zeitlupe. Sie wirkt ungelenk, orientierungslos, erschlagen – als hätte sie eine schwere Grippe durchlebt.

Der Himmel ist grau. Es ist Samstag. Langsam erwacht München aus dem Delirium. Der Verkehr lebt auf, vor dem Bäcker duftet es nach frischen Brezen, und es besteht Hoffnung, dass doch noch einmal Normalität einkehrt.

Wie jedes Jahr
Bunt erleuchtetes Riesenrad auf dem Oktoberfest in Nahaufnahme vor schwarzem Nachthimmel
Höhenflug und tiefer Fall. Foto: Anja Baumeister

Er hat wieder einmal getobt, der wilde Wahnsinn auf der Münchner Theresienwiese, die schon lange keine mehr ist. Nach 209 Jahren Bierb(r)auchtum wächst dort nun wirklich kein Grashalm mehr. Für die Münchner ist das das 42 Hektar große Beton-Kies-Areal deshalb aber nicht minder ein Heiligtum – vermutlich ist es sogar das Heiligtum mit dem welthöchsten Alkoholgehalt.

Ja, die Wiesn. Sie riecht nach einem wilden Mix aus Bier, Brathendl, Lebkuchenherzen und Menschen aus aller Welt, die in surrealen Sprachen angeregte Unterhaltungen führen und sich hemmungslos über viel Bier und schlechte Musik freuen.

Menschenmenge im Hackerzelt auf dem Oktoberfest, wunderkerzen brennen in vielen Händen, über den Köpfen der Leute leuchtet der Logobanner "Hacker-Pschorr-Himmel
Bierseelen im Wiesnrausch. Foto: Anja Baumeister

Von kulturellem Austausch im klassischen Sinne kann nicht die Rede sein. Es ist mehr, viel mehr. Es ist ein osmotischer Traum – ein Verschmelzen von Kulturen, Sprachen und Individuen aus aller Welt zu konturlosen, menschlichen Agglomeraten mit tierischen Zügen, die im sinnbetäubenden Biernebel willenlos vor sich hin diffundieren. Ineinander verschlungen schunkeln sie auf den Bierbänken, als gäbe es kein Ich, kein Du und kein Morgen mehr. Jeder ist auch irgendwie der andere, der eine mehr als der andere und der andere mehr als er selbst – oder … häää?

Es ist immer wieder eine Show, wie sich eine ganze Stadt ins Jenseits schießt und alle mitmachen, die – nach Münchner Definition – aus dem Jenseits kommen. Es ist lustig, albern, komisch – es ist reizvoll und abstoßend zugleich. Und wenn man ganz genau hinsieht, ist es ein merkwürdiges Trauerspiel.

Was übrig bleibt

Was bleibt vom rauschenden Wiesnfest? Nicht viel. Ein bisschen Müll. Dröhnende Kopfschmerzen. Ein Loch im Portemonnaie. Und ein Gefühl von Leere. Es ist ein harter Moment, in dem man aus dem Dämmerzustand fällt und auf dem Boden der Realität aufschlägt. Wenn man sich von sieben Millionen anderen Bierseelen lösen und wieder in die vier Wände des eigenen Selbst zurückkehren muss.

Im Gegensatz zu den Touristen kennt der Münchner diesen Moment seit 1810. Er ist darauf vorbereitet. Dennoch braucht auch er eine Weile, bis er wieder zu sich selbst findet. Ende Oktober aber ist es so weit. Er kratzt sich den Senf der letzten Bratwurst aus dem Bart, streicht seine Hirschlederhosen glatt, steckt sich den Gamsbart wieder an den Hut und schickt seine Frau um ein Bier. Und während sie das überschäumende Glas vor ihm auf den Tisch knallt, sagt er gedankenverloren zu ihr: „Geleck, Resl, da hammas fei wieder gescheid gracha lassn.“ Dann nimmt er einen tiefen Zug aus dem Glas und lässt sich die Welt hintenrum vorbeigehen – bis zum nächsten Jahr.

Nachaufnahme eines vollen Masskrugs vor schwarzem Hintergrund
Prost. Foto: Pixabay