Mir geht es gut

Vom ganz normalen Umgang in vollen Zügen


Eine Glosse von Kerstin Schröder


Zeichnung: Kerstin Schröder

Die Unempfindlichkeit mancher Menschen gegenüber den Bedürfnissen ihrer Umgebung scheint manchmal der Intensität ihres Medienkonsums zu entsprechen. Nehmen wir diesen zirka 17-jährigen Schnösel. Er sitzt im Großraumwagen eines Münchner Vorortzuges, ist pikobello gekleidet, Modehaarschnitt, Jeansshorts, Markenturnschuhe, Markenshirt, Rucksack, Smartphone, Apple-Laptop. Rund herum sitzen 16 andere Reisende. Angesichts dessen, dass der Schnösel fast zwei Meter groß ist, fragt man sich natürlich, wieso sich dieser Riesenklotz direkt vor der Eingangstür platziert hat. Seine Füße ragen mitten ins Abteil. Unerschütterlich stehen sie im Durchgang. Er hat es sich erst einmal gemütlich gemacht. Lässig hängt er auf seinem vierzig mal vierzig Zentimeter großen Klappsitz, Kopfhörer auf, vertieft ins Smartphone. Es kommt, wie es kommen muss. Ein Mann aus dem Nachbarwaggon öffnet die Tür, will den Raum queren und stolpert über die Schnöselfüße. Der Schnösel reagiert nicht. Weder zieht er die Flossen ein, noch kommt eine Entschuldigung über seine Lippen. Der Mann aus dem Nachbarwaggon taumelt durch den Wagen, fängt sich im letzten Moment und landet auf einem freien Sitzplatz.
Der nächste Bahnhof naht. Eine vitale Seniorin mit weißem Haar strebt Richtung Ausgang. In letzter Sekunde erkennt sie durch ihre Goldrandbrille das Hindernis: die Füße des Schnösels im Gang. Mit eleganten kleinen Schritten trippelt das Weißköpfchen über die Stelzen des jungen Mannes. Seinen Rollkoffer zieht es jedoch – ratsch – unbeirrt über die schicken Markenturnschuhspitzen hinter sich her. Ein leichtes Zucken geht durch die Füße des Zwei-Meter-Teens, doch offenbar sind sie zu schwer, um den Weg frei zu machen.

Stattdessen vertieft sich der langbeinige Wegblockierer in seinen Laptop. Ein paar Kilometer weiter kommt der nächste Reisende ins Abteil. Dieser steigt – ganz vorsichtig - über die Füße des Schnösels. Er ist barfuß und seine Fußsohlen sind schwarz vom Straßenstaub. War der langbeinige Wegelagerer bisher cool, erwacht er nun ruckartig aus seiner Computerwelt, starrt verblüfft auf die nackten Füße und schüttelt mit einem Ausdruck tiefster Empörung den Kopf. Dieser Verstoß gegen die Markenkonsumetikette fällt dem Schnösel doch tatsächlich unangenehm auf!
Kurz vor dem Endbahnhof drängen sich die Fahrgäste an der Tür. Der Schnösel – fast an der Spitze - überragt die Meute. Vor ihm nur eine Mutter mit drei Kindern plus Kinderwagen. Die Kinder quengeln, haben genug von der stickigen Luft im Zug. Endlich, der Zug hält – doch es geht nicht voran. „Könnte jemand der Mutter helfen, den Kinderwagen, äh...“ . Weiter kommt die freundliche Stimme aus dem Hintergrund nicht. Denn der Schnösel reißt die Tür auf, schubst das kleine Mädchen neben ihm zur Seite und schiebt sich am Kinderwagen vorbei ins Freie. Das Kind weint. Die Mutter schaut gestresst und hält krampfhaft den Kinderwagen fest. Jemand versucht, den Wagen mit dem Kind von unten zu packen. Er rutscht ab. Der Wagen kippt einige Zentimeter nach vorn. Die Mutter bekommt es mit der Angst zu tun. Hinten in der Schlange kreischt eine fette Punkerin: „Warum geht denn da vorn nichts weiter? Muss ich denn hier ewig warten?“ Bedrohlich neigt sich der Kinderwagen aus dem stehenden Zug. Gerade noch kann jemand den Sturz aufhalten und den Wagen samt Kind den halben Meter zum Bahnsteig hinunter heben. Verärgert über das Hindernis und die Wartezeit verlassen die anderen Reisenden den Zug. Am Bahnhofsausgang steht jetzt der Schnösel. Er hat sich erst einmal ein Eis gegönnt, und nun wartet er ungeduldig darauf, dass er abgeholt wird. Ihm geht’s gut.