Die Heimat nach Hause holen

 

Ein Interview von Johanna B.

Werden in einer Familie mehrere Sprachen gesprochen, geht es nicht nur um den Erwerb von Wortschatz und Grammatik. Sprache ist immer auch Teil der eigenen kulturellen Identität. Andréa Menescal Heath arbeitet an der Internationalen Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Begriff ‚Heimat’ wird für sie dann greifbar, wenn er mit kulturellem und sprachlichem Leben gefüllt wird.

 

Andréa Menescal Heath

Frau Menescal, Sie begleiten mehrsprachige Familien, deren Kinder bilingual aufwachsen. Welchen Begriff von Heimat entwickeln Kinder, die in Familien mit verschiedenen Kulturen leben?

Heimat ist immer mit Identität verbunden. Die Frage ist, wie bringen wir unsere Kinder dazu, eine bestimmte Identität zu entwickeln? Eine Identität, mit der sie sich gut fühlen, weil sie zu einer bestimmten Kultur eine Beziehung aufgebaut haben. Es ist Aufgabe der Eltern, Kinder in diese kulturelle Verbundenheit zu bringen, um ein Gefühl von Heimat erleben zu können. Eine Heimat zu finden ist ein Prozess. Die Kinder aus mehrsprachigen Familien haben meistens mehr als nur eine Heimat, es können auch zwei oder drei Heimaten sein.

Welche Rolle spielt Sprache bei diesem Prozess?

Die Sprache stellt nicht einfach nur die Wörter zur Verfügung. Besonders dann, wenn es die Muttersprache eines Elternteils ist. Als Eltern geben wir unseren Kindern mit der Sprache auch unsere ganze Kultur mit auf den Weg: Das heißt, alles, was wir erlebt haben, unsere Kindheit und unsere Erfahrungen, die wir mit dieser Kultur gemacht haben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich zum Beispiel bin in Brasilien aufgewachsen. Dort gehört das brasilianische Junifest „festa junina“ zur Tradition. Die Brasilianer ehren damit die Heiligen Johannes, Paulus und Antonius. Das ist echte brasilianische Folklore. Alles, was mit brasilianischer Kultur zu tun hat, ist Bestandteil dieses Festes: Tanz, Kleidung, Essen. Das Junifest wird von allen Brasilianern auf der ganzen Welt gefeiert. Dieses Fest ist für mich auch als Erwachsene wichtig, weil ich es schon als Kind erlebt habe. Diesen Teil meiner Kindheitskultur gebe ich an meine Kinder weiter, obwohl sie in Deutschland geboren sind und hier aufwachsen. Auch sie werden dann dieses Gefühl von Identität haben und sich mit der brasilianischen Kultur verbunden fühlen.

Das heißt, Kinder können ein Heimatgefühl zu dem Heimatland ihrer Eltern entwickeln, ohne regelmäßig dort zu sein?

Auf jeden Fall. Nehmen wir nochmal das Beispiel des Junifestes. Eltern zeigen ihren Kindern damit einen Teil von ihrem Leben, ihrer Kindheit. Sie sagen nicht einfach, schaut mal, diese Leute tanzen einen traditionellen Tanz. Sie sagen eher, dass sie selbst so getanzt hätten, als sie klein waren. Oder sie werden einen bestimmten Kuchen probieren und sagen: Den hat meine Mutter damals auch immer gemacht. Erst wenn Kinder eine Sprache und Kultur auf diese Weise kennenlernen, können sie ihre eigene Identität entwickeln. Und damit ein Heimatgefühl.

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Wenn in einer Familie mehrere Sprachen gesprochen werden, welche sollen die Eltern dann an ihre Kinder weitergeben?

Die Forschung zum Thema Bilingualismus ist sich einig darüber, dass es für mehrsprachige Kinder wichtig ist, zuerst die Herkunftssprache der Eltern zu lernen. Das können ruhig auch zwei verschiedene sein. Wichtig ist, dass die Kinder eine gute sprachliche Basis haben.

In der Diskussion um die Integration von Flüchtlingen gibt immer wieder die Forderung, dass deutlich mehr oder sogar ausschließlich Deutsch in Familien mit Migrationshintergrund gesprochen werden soll. Was halten Sie davon?

Meiner Meinung nach sollten Eltern großen Wert auf ihre eigene Muttersprache und auf ihre eigene Kultur legen. Ich bin überzeugt davon, je besser Kinder ihre eigene sprachliche Heimat kennen, desto offener sind sie für andere Sprachen und Kulturen. Oder anders gesagt: Je mehr sie ihre eigene Kultur verstärken, desto besser werden sie die deutsche Sprache und Kultur in ihr Leben integrieren.

Ich denke, Kinder mit Migrationshintergrund werden sich schnell mit Deutschland identifizieren – aber das funktioniert eben nicht nur über Sprache. Ich selbst möchte auch, dass meine Kinder sehr gut Deutsch lernen, daher muss ich beide Sprachkulturen in unserer Familie gleichzeitig pflegen. Je mehr ich meine eigene Kultur verstärke, desto besser werde ich die deutsche Sprache und Kultur lernen. Das ist etwas, was einige Leute nicht verstehen. Sie denken immer noch, dass man erst seine eigene Identität ablegen muss, um die deutsche Kultur und Sprache gut lernen zu können.

Heißt das im Umkehrschluss, dass man sich nicht automatisch deutscher fühlt, wenn man die deutsche Sprache beherrscht?

Nein, ich glaube nicht. Man entwickelt vielleicht eine Art von Identität, die aber nicht wirklich etwas mit einem zu tun hat. Dazu braucht es das Erlebnis von Kultur. Das erste Gefühl von Heimat, werden die Kinder durch die Kultur und Sprache der Eltern bekommen.

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vig

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