Die Gegenwart der vergangenen Zukunft

13. Oktober 2017
Die Gegenwart der vergangenen Zukunft

Der britische Science- Fiction-Autor John Brunner schuf bereits im Jahr 1972 mit „Schafe blicken auf“ (The Sheep Look Up) eine bleibende Mahnung für die Ewigkeit. Bewahrheitet hat sich seine dürstere Vision unserer Gegenwart zum Glück nicht. Manchmal ist es ein Buch wert, dennoch nicht vergessen zu werden: Unbedingt mal wieder lesen!

Er machte es seinen Lesern mit „Schafe blicken auf“ nicht leicht, John Kilian Houston Brunner, geboren 1934 in Oxfordshire und nach Ruhm und Anerkennung 1995 eher elend abgetreten am Rande eines Sci-Fi-Kongresses in Glasgow. Dem inhaltlich sperrigen Titel aufblickender Schafe folgt auf 416 literarisch und psychisch anstrengenden Seiten ein deprimierend hoffnungsloses Bild moderner Zivilisation in einem scheinbar verqueren Montagestil aus unzähligen Charakteren, unzähligen Schauplätzen, unendlichen Handlungssträngen und historischen Querverweisen mit Blick auf die oft genug kulturell akzeptierte Dummheit der Menschen.

Ein wirres Bild. Meint man erst. Wer überdies ein anfängliches Randgeschehen im ganzen Wust aus Unglücken und Dramen zu flott überfliegt, einen Unfall auf dem Highway, dem verbirgt sich künftig ein Grund (in der durchaus stringenten Thriller-Handlung) für den akut ausbrechenden Wahnsinn der Welt bis zum bösen  oder guten?  Ende. Wer weiß es schon so genau. Es gehen viele Fragezeichen hoch.

Den Leser dieser Buchrezension sei das zunächst erspart. Erst das Zusammenfassbare statt dem Unfassbaren. Geschildert wird die Zukunft.

Es ist die Zeit, als gerade die Mikrowelle aus boomender Technik nebst einem neuen ökologischen Denken aus alter Hippiezeit erwachsen. 1972 verfasst, 1978 in Deutschland erschienen. Da rührte sich viel und Science Fiction war durchaus ein mahnendes Genre; … und nicht nur Action-Laserschwert.

John Brunner fragte sich also: Was kann aus dieser Welt werden? Vielleicht in zehn oder etwas mehr Jahren. Er breitet ein düsteres Szenario aus. Dicke Luft, verseuchte Meere, Menschen im Konsumwahn ohne innere Wertigkeit, eine ignorante Medienlandschaft, gierige Konzerne und ein machtversessener Präsident in den USA. Darum kreist die Handlung zumeist. Da herrscht die Hybris, dass es nicht so schlimm kommen kann, solange neue Filtertypen entwickelt werden und die stärkste Militärmacht für Gerechtigkeit in der Welt sorgt. Dann kommen ein paar positive Helden ins Spiel, die biologisches Gemüse züchten, aufklären, informieren, demonstrieren; oder sich in Überspitzung ihrer guten Idee radikalisieren. So weit wäre alles drin. Hollywood würde den Helden siegen lassen. Hier wird der eher nebenbei von einer gesprengten Betonmauer erschlagen, während sich der Bombenleger gerade auf ihn moralisch beruft. Und in einer der vielsagendsten Szenen des Buchs möchte die innerlich längst zerstörte Jugend des Landes sich einem nie endenden psychedelischen Rausch hingeben, weil diese Welt nur noch im Wahn erträglich sei. Hollywood kommt also, so viel sei verraten, nicht zum Zug.

Was soll das? Diese beschriebene Zukunft Brunners vor der Jahrtausendwende ist doch Vergangenheit. Wir hatten Millennium und Aufbruch; positive Stimmung, Katalysatoren. Hat sich Brunner also nicht erübrigt? Der alte Miesmacher!

Zurück in die Gegenwart

Es ist gar kein Drama, wenn die Handlung selbst zu gut versteckt bleibt. Das „Kakodoskop“ (das miese Gegenteil eines Kaleidoskops) des Untergangs vermittelte sich auch so. Es ist eine komplexe Welt, in der wir leben. Die rosarote Brille wird vom Kopf gerissen: „Schaut auf Eure Zeit!“ Zurück vom Thriller in die Gegenwart: Zieht sich der reiche Westen den Zorn der unterdrückten und ausgebeuteten Welt irgendwann auf sich? Flüchtlingsströme, Terror, Krieg; wenn die Verzweiflung stärker wächst als das Waffenarsenal? Wie sensibel ist das Netz des dekadenten Luxus gestrickt, wenn ein winziger ökologischer Negativfaktor zu viel Versorgungssicherheit von Metropolen einknicken lässt wie ein Kartenhaus? Und dann tritt als aktualisierter Weltsheriff auch noch ein Trump auf den Plan, der Lösungen im extrakurzen „Tweet-Format“ anbieten zu können glaubt. Der meint, mit Mauern Probleme aussperren und mit Atombombendrohungen gegen einen weiteren Wahnsinnigen die Angst der Menschen vermindern zu können.

„Schafe blicken auf“ überzeichnet im Vergleich dazu extrem. Es bleibt dennoch ein Lehrstück, das seine Aktualität nie verliert und dem Glauben, dass schon alles selbst gut werden wird, einen erschütternd bewusst machenden Zerrspiegel vorhält; von dem schließlich nur ein deprimierender Scherbenhaufen übrig bleibt: Will die Welt es so weit kommen lassen? Die Frage bleibt immer bestehen. Heute ist sie wieder einmal ganz aktuell.

Der Titel des Romans bezieht sich übrigens schon auf eine Endzeitvision aus dem Jahr 1637.

Titelbild: © Hermann Haydn

Weiterführende Links
Enzyklopädie der SF-Autoren/John Brunner
Wikipedia/John Brunner

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